Kennt Ihr schon die Quarterlife-Crisis? 2001 kamen die beiden Amerikanerinnen Alexandra Robbins und Abby Wilner in Kontakt mit einer Phase im Leben, über die sie vorher noch nie etwas gehört hatten. Beide hatten zu dieser Zeit schon die ersten Karriereschritte gemacht, fühlen sich eigentlich wohl, aber irgendwie leer und orientierungslos. Sie machten sich auf die Suche und prägten den Begriff in ihrem Buch „Quarterlife-Crisis – die Sinnkrise der Mittzwanziger“. Bei der Quarterlife-Crisis geht’s um
(…) jene Sinnkrise, in die viele junge Menschen im Alter von Mitte, Ende 20 stürzen, weil sie sich fragen: Habe ich im Leben die richtigen Antworten gegeben? Was, wenn ich daneben lag? Und wie geht das Spiel dann weiter?
(Artikel „Quarterlife-Crisis: Und was, wenn alles falsch war?“ aus NEON vom September 2018)
Ich kenne das aus eigener Erfahrung und sehe es momentan auch bei vielen meiner Freundinnen (von Männern höre ich das eher nicht so, aber das mag auch daran liegen, dass ich aktuell mehr weibliche als männliche Freunde habe). Dabei ist die Quarterlife-Crisis kein neues Phänomen, sondern nur ein neuer Begriff für ein Gefühl, das schon Generationen von Menschen vor uns hatten.
Irgendwie ist es ja auch ganz logisch, dass man sie bekommt. Mit Ende 20 und in den 30ern ist man erstmals an einem Punkt angekommen, der es einem erlaubt, innezuhalten und sich die bisherige Wegstrecke anzuschauen. Bis dahin hat man immer nur geschafft und die eigenen Befürfnisse konsequent ignoriert.
Keine Illusionen
Schulabschluss, Studium oder Ausbildung, Praktikum, erster Job, zweiter Job, dritter Job – wer in dieser Phase nicht bereit ist, ALLES zu geben, der braucht sich keine Illusionen zu machen, dass er es zu etwas bringen wird. Ich gehöre zur „Generation Praktikum“ – und ich gehöre zu einer Berufssparte, die in den letzten Jahren elend ausgebeutet wurde und immer noch wird. Eine schrecklich miese Kombi: Wir arbeiten unbezahlt, werden in die Freiberuflichkeit gezwungen (hallo FNP und Scheinselbständigkeit, danke für nichts) oder sind zutiefst dankbar, in einer Tarifgesellschaft zur Hälfte des branchenüblichen Lohns festangestellt zu werden. Oder wir finden etwas, das vernünftig bezahlt wird, und hangeln uns von einem zum nächsten befristeten Vertrag. Wir hinterfragen das System aber auch nicht, weil es den meisten anderen, gut ausgebildeten Akademikern im Freundeskreis ja genauso geht.
Die Wissenschaft hat diesen Jahren bereits einen Namen gegeben: die floundering period. Eine Phase, in der man zappelt wie eine Flunder.
(Artikel „Generation Praktikum“, ZEIT online 2005)
Dadurch bekommt der Karriereweg etwas zufälliges. Denn wir steuern nicht gezielt auf den Job zu, der uns gefällt; wir nehmen den ersten Festvertrag, der uns angeboten wird. Und dann den nächsten, der etwas bessere Bedingungen verspricht. Wir versuchen, uns nach oben zu hangeln, um irgendwann auf einem grünen Zweig anzukommen, der uns tragen kann.
Ein Job wie Komasaufen
„Gute Bedingungen“, das ist für Young Professionals wie mich so ein Schlüsselbegriff. Damit gemeint sind ein Gehalt, von dem man leben kann, normale Arbeitszeiten mit Zeiterfassung und 30 Tage Urlaub. Früher und in anderen Branchen normal, für uns Journalisten fast unerreichbar. Deshalb fragt man nicht, ob das Themengebiet interessant ist oder einem beim bloßen Gedanken daran schon die Gänsehaut über den Rücken kriecht, wenn man einen festen Vertrag zu guten Bedingungen angeboten bekommt. Scheißegal, dann schreibe ich halt über Gesundheitspolitik – Hauptsache, ich kann nächsten Monat wieder meine Miete bezahlen. Meine Kollegin und ich haben über die Arbeit bei der „Ärzte Zeitung“ vor einigen Jahren mal gesagt, das sei wie Komasaufen: Glas ansetzen und einfach schlucken, schlucken, schlucken – bloß nicht drüber nachdenken.
Man braucht keine höhere Psychologie, um zu verstehen, warum wir irgendwann in diesen philosophischen Zustand fallen und anfangen, unsere Entscheidungen zu hinterfragen. Und dass das genau in dem Moment passiert, in dem wir wirtschaftlich halbwegs safe sind. Schon der alte Karl Marx wusste ja, dass ein Arbeiter, der den ganzen Tag geknechtet hat, abends keine Energie mehr hat, sich mit der Frage einer fairen Kapitalverteilung zu beschäftigen.
Dass das ausgerechnet mit Ende 20, Anfang Mitte 30 passiert, ist also kein Zufall, wie weiter unten im NEON-Artikel zu lesen ist.
In diesem Alter sind wir so weit, selbst genug Antworten gegeben zu haben, die wir nun evaluieren können. Davor sind wir zu oft Produkte von Entscheidungen, die andere für uns getroffen haben – die Eltern, die Schule, das Lebensumfeld. Mit Mitte oder Ende 20 hat man sich selbst einen Lebensweg und -stil gesucht, sich für ein Studium oder eine Ausbildung entschieden, man hat Ja oder Nein gesagt zu Möglichkeiten und Menschen. Dann, mit ein paar Jahren Abstand, fragt man sich: Und was, wenn das alles falsch war?
Wenn wir jede Chance wahrnehmen, die das Leben uns bietet, kann es passieren, dass wir plötzlich nach einigen Jahren in der Führungsposition eines Jobs sind, den wir eigentlich nie machen wollten. Einfach, weil sich die Gelegenheit ergeben hat und wir zugegriffen haben. Weil es sich so gehört, Karriere machen zu wollen. Und weil uns nichts besseres einfällt. Denn wir haben verlernt, zu wissen, was wir wollen. Das manifestiert sich auch schön in der für mich noch immer unbeantworteten Frage, wie ich eigentlich meine Freizeit gestalten möchte (>> „Hilfe, ich bin ein Wochenend-Versager!“ <<). Wir leben schon zu lange mit dem Fehler, Zufälle für bewusste Entscheidungen zu halten.
Whaaat?
Wenn wir dann eines Nachts wachliegen und uns ehrlich ansehen, wohin dieser Weg uns geführt hat, denken wir plötzlich: Whaaaat? Und stellen uns all die Fragen, die zum Beispiel auch Michelle Obama nach einiger Zeit als Anwältin umgetrieben haben (>> darüber schreibt sie in ihrer Biografie „Becoming“, mehr dazu hier <<). In ihrem Fall lautete die Frage: „Warum bin ich eigentlich Juristin geworden? Ich kann Jura doch eigentlich gar nicht ausstehen.“ In meinem Fall lautet sie: „Was kann ich außer Zeitungmachen noch?“ Und eine meiner besten Freundinnen fragt sich momentan sehr eindringlich: „Wofür brenne ich eigentlich?“
Zum Glück sind wir mit Anfang Mitte 30 gut dazu in der Lage, eine erste Kurskorrektur vorzunehmen. Allerdings müssen wir dafür erstmal rausfinden, was wir eigentlich wollen. Aber das ist eine Frage, die einen eigenen Artikel verdient hat.
Ich mag die Frage deiner Freundin: wofür brenne ich eigentlich? Was bereitet mir Freude? War wohl eine meiner Aha-Momente, als ich die gestellt bekommen habe! 👍
Und hast du eine klare Antwort darauf?
Jaein. Ich glaube mittlerweile, es gibt für die meisten Menschen, jedenfalls für mich, keine universal richtige Antwort darauf. Klar, bei ein paar Grundsatzfragen vielleicht schon, zb brennst du für eine eigene Familie oder möchtest du einen Job, der von 9-17 Uhr ist und dann nimmst du nix mit heim? (wobei sich auch hier die Einstellung ändern kann, glaube ich..). Ich hab für mich festgestellt, dass es gut ist, mir immer wieder die Frage zu stellen, ob mir etwas Freude macht. Mein Job, das Wohnen in meiner Wohnung, ins Fitness gehen, eine bestimmte Art Urlaub, etc, und einfach öfters Gewohnheiten bzw den Status quo zu hinterfragen. Wenn ich feststelle, ja, macht es, wunderbar. Wenn nicht, suche ich weiter 😉 Und das gilt für mich für viele Lebensbereiche. Ich bin halt nicht ein Mensch, der nur für eine Sache brennt – wobei Tanzen mir schon extrem wichtig ist. 😊 Hast du eine Antwort?
„Ich hab für mich festgestellt, dass es gut ist, mir immer wieder die Frage zu stellen, ob mir etwas Freude macht.“ Diesen Teil deiner Aussage, den Zeit-Aspekt daran, finde ich besonders spannend. Denn die Antwort, die vor fünf Jahren für uns richtig war, ist es heute vielleicht nicht mehr – und genauso ist eine Antwort, die wir heute geben, nicht automatisch gültig für den Rest unseres Lebens. Wir entwickeln uns weiter, wachsen, entdecken neue Fähigkeiten und bauen Wissen aus. Zum Glück!
Und manchmal, wie wahrscheinlich in meinem Fall, ist die Antwort immer noch die gleiche wie vor zehn Jahren, aber das, was wir damit verbinden, entwickelt sich weiter.
Meine Antwort war und ist immer noch: Ich brenne für Geschichten. Ich liebe es, wenn Leute mir ihre Lebensgeschichten erzählen und dabei vor Begeisteurung und Überzeugung leuchten. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass ich sie für die Zeitung aufbereiten muss – oder dass ich das hauptberuflich machen will. Vielleicht ist es zum Beispiel viel besser für meine emotionale Gesundheit, nur ab und zu eine Geschichte für die Zeitung zu schreiben und das dann genießen zu können, als mich und meine Seele permanent auswringen zu müssen, um auch ja den letzten Tropfen Leidenschaft noch zu Geld zu machen, was zweifelsfrei nötig ist, um vom „echten“ Journalismus leben zu können. Du siehst, ich bin schwer berufsphilosophisch gerade… ;)
Danke für diese Zeilen, es steckt viel Wahrheit darin, insbesondere der Teil zum Thema Journalismus und der guten alten FNP …
Dennoch muss ich hier bekennen, dass ich in diesem Sinne keine Quarterlife-Crisis hatte, was eventuell daran liegen kann, dass ich noch nie versucht habe, meine „Karriere“ zu planen. Sie ist mir einfach passiert – und passiert immer weiter.
Allerdings frage ich mich auch, ob es überhaupt möglich ein Leben (und damit eine Karriere) zu planen. Natürlich treffen wir Entscheidungen, aber wer ist schon soweit Herr seines Lebens, dass er frei darüber verfügen könnte? Wir können noch so viel entscheiden, das Leben ergibt sich – und wir können nichts daran ändern. Ist ein Zurückblicken im Sinne eines „Was wäre wenn …“ daher nicht in jedem Fall müßig?
Liebe Grüße, Pirandîl
Lieber Pirandîl, da hast du natürlich völlig recht – niemand kann sein Leben und seine Karriere so vorweg planen, dass am Ende dann auch wirklich alles genauso kommt. Zumindest niemand in unserer Branche. Wenn wir Ärzte oder Anwälte wären, hätten wir vielleicht von vornherein einen klareren Karriereweg vor uns gehabt. Der Berufsweg des Journalisten ist vielleicht dann doch eher einer, der sich eher aus vielen kleinen Wegstücken zusammensetzt.
Mir geht es aber weniger um die Frage „Was wäre wenn?“ als um die Frage „Was könnte denn eigentlich noch sein?“ Also kein Infragestellen dessen, was ich bisher getan habe, denn das kann ich ja eh nicht ändern, sondern darum, ob mich der eingeschlagene Weg denn jetzt noch glücklich macht.
Darum, einfach mal ehrlich zu evaluieren, wenn du so willst, ob der Beruf zum Beispiel noch zu mir passt oder ich längst neue Talente entwickelt habe, die ich nutzen könnte. Denn wir alle verändern uns ja und wachsen, so dass neue Kenntnisse und Fähigkeiten einem heute Möglichkeiten eröffnen, die wir vor zehn Jahren vielleicht noch nicht hatten. Also darum, nicht aus Verlegenheit in einer Situation zu verharren, nur weil mein zehn Jahre jüngeres Ich sie gewählt hat.
Klingt, als ob ich unglücklich mit meinem Job oder Leben wäre, dabei ist das überhaupt nicht so. Ich möchte nur dazu aufrufen, mutig nachzujustieren. ;)