Abschiednehmen: Die Kali-Challenge

Foto: Ingo Doerrie

Es ist eine Zeit der Abschiede für mich. Egal, wohin ich gerade schaue: an allen Seiten meines Lebens zerbricht und zerbröselt etwas.

Ich muss eine Wohnung mit auflösen, in der ich große Teile meiner Kindheit verbracht habe – das ist schmerzhaft. Eine gute Freundschaft ist bereits im Januar zerbrochen, eine andere ist gerade dabei, und das tut mir sehr sehr weh. Aber egal, wie verbissen ich daran festhalte, es liegt nicht mehr in meiner Hand. Mein liebster Laden auf der ganzen Welt, in dem ich viele Stunden verbracht habe und der mir wie ein zweites Zuhause war, schließt – und ich bin sprachlos.

Konfrontiert mit all diesen Veränderungen in kürzester Zeit fühle ich mich irritiert, heimatlos und so, als ob ich ein Stück meiner Identität verliere.

Und es sind nicht nur diese großen Dinge, sondern auch viele kleine Neuigkeiten, die mir einen Stich versetzen: Ein Café, in das ich seit Jahrzehnten mit meiner Mutter gehe, zieht um. Ein Papier- und Bücherladen, den ich mochte, schließt. Und so weiter.

Diese Abschiede lehren mich, dass nichts im Leben für immer ist, auch wenn man es über Jahrzehnte für selbstverständlich gehalten hat. Und sie machen mich demütig. Mir scheint, ich habe vergessen oder verdrängt, dass alles jederzeit in Gefahr ist, sich aufzulösen. Und jetzt ärgere ich mich über mich selbst. Hätte ich nicht darauf vorbereitet sein müssen, dass Dinge zuende gehen, Freundschaften zerbrechen, dass ich Orte verlassen muss und Liebgewonnenes aufgeben? Dann wäre es vielleicht weniger schmerzhaft, weniger überraschend gewesen. Aber ich war so naiv. Habe mich so sicher gefühlt. Doch ich war es nicht, natürlich nicht.

Foto: Dan Meyers

Abschiede, so scheint mir, kommen in Wellen. Jahrelang bleibt alles, wie es ist. Und plötzlich passiert eine Erschütterung, und dann kommt irgendwie alles in Schwingung. 2020 war das schon einmal so für mich. Da habe ich meinen Job verloren, mein Auto ging kaputt, wir haben erfahren, dass unsere alte Wohnung verkauft wird, und sind kurz darauf umgezogen. Vielleicht bedingt eine Veränderung die nächste, ein Abschied den nächsten? Vielleicht, wenn alles in den Umbruch geht, geraten auch Dinge in Bewegung, deren Zeit noch gar nicht gekommen wäre?

Es gibt Phasen, da habe ich mir das gewünscht, doch aktuell bin ich in einer anderen Phase, in der ich am liebsten alles festhalten und einfrieren würde, damit es für immer so bleibt.

Oder vielleicht brauche ich das Aufbrechen gerade jetzt?

Vielleicht ist es dann am wichtigsten, wenn es besonders weh tut, und dann am hilfreichsten, wenn ich mich gerade am mutlosesten fühle?

Im Hinduismus gibt es Kali („Die Schwarze“), die Göttin des Todes und der Zerstörung. Ich habe von Menschen gehört, auch solche ohne hinduistischen Hintergrund, die Kali herbeirufen, weil sie sich aus allem befreien, alles opfern wollen, um eine Chance auf Neues zu kriegen. Alles. Das Schlechte genauso wie das Gute. Und sie tun es im Vertrauen, dass wenn alles zerbricht, Neues entsteht.

Ich bin so schlecht darin, Abschied zu nehmen. Vielleicht fordert mich diese Zeit in meinem Leben dazu heraus, es endlich zu lernen. Vielleicht klopft Kali gerade an meine Tür, auch wenn ich sie nicht gerufen habe. Doch egal ob es Kali ist oder einfach das Leben: Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit den Veränderungen zu tanzen.

Vielleicht will, was ich nicht ändern kann, mich ändern.
(Kyrilla Spiecker)

1 Kommentar

  1. Aber diese öffentliche Lesung war und bleibt doch ein Erfolg und sicher vieles andere auch.
    Das mit den 2 Freundinnen, deren Leben „zerbrochen“ ist, beschäftigt mich besonders, obwohl es mich nichts angeht. Viele weitere Fragen möchte ich stellen. Aber es scheint sich dies Zusammenbrechen und ganz neu zu beginnen, wie ein roter Faden durch Ihr Leben zu ziehen…Trotzdem alles Gute!

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