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#psyche: Erzählung von der dunklen Seite

Foto: Annie Spratt

Unser Leben ist ein wunderbarer Selbstläufer. Das mit dem Hauskauf war eine Entscheidung, die uns nicht leichter hätte fallen können. Kein einziges Mal habe ich nachts wachgelegen und geweint, weil ich Angst vor dem Risiko gehabt hätte. Björn und ich streiten uns nie, nicht mal, wenn wir ein Ikea-Regal aufbauen. Jeden Morgen, wenn mein Wetter klingelt, ist mir nach Jubilieren, niemals bin ich müde oder lustlos oder genervt. Ich genieße mein Leben, jede einzelne Sekunde des Tages. Und überhaupt, ich habe niemals Zweifel, niemals Sorgen, niemals eine Blase am Fuß oder Kopfschmerzen. Läuft bei uns.

Könnte man offenbar meinen. Zumindest, wenn man mir nicht (mehr) nahe steht. Gestern hatte ich zum ersten Mal seit langem wieder Kontakt zu einem früheren Freund, der schrieb, er beneide mich ein bisschen um mein Haus – wie schön, dass es so gut für mich laufe. Das war sicher lieb gemeint, aber es machte mich auch ein bisschen traurig. Denn es zeigt mir, wie weit wir uns voneinander entfernt haben. Wenn wir uns noch nahe stehen würden wie früher, hätte er mich auf diesem Weg begleitet, er hätte gewusst, wie viel Schmerz und Zweifel und Sorge und Schlaflosigkeit mit der Entscheidung verbunden gewesen ist. Er wäre einer der ersten gewesen, denen ich das Haus gezeigt hätte, noch bevor wir die Türen lackiert und die Boden abgeschliffen hätten und alles so schön wurde, wie es jetzt ist. Er hätte miterlebt, dass der Hauskauf nicht nur leicht, nicht nur Glück war. Sondern uns phasenweise an unsere Grenzen gebracht hat. Mein früherer Freund hätte das Haus, die Zeit, mich dreidimensional gesehen und nicht nur flach, wie es jetzt der Fall ist. Jetzt sieht er mich von außen und bewundert, wie gut und einfach alles läuft bei mir. Wie schade.

In einer so guten Freundschaft, wie wir sie hatten, gehört es dazu, sich dem anderen in all seiner Verletzlichkeit zu zeigen. Doch wenn man auseinander geht, möchte man nachvollziehbarerweise nicht mehr als verletzlich wahrgenommen werden. Man zieht also die Schutzmauer hoch, gibt nichts mehr Preis, macht „den emotionalen Rolladen runter“, wie ein ehemaliger Kollege von mir immer sagte. Wenn Menschen, die einem früher nah standen – entfremdete Freunde, Ex-Partner, Familienmitglieder, zu denen der Kontakt abgerissen ist -, einen dann nach einer gewissen Zeit so aus der Ferne betrachten, sehen sie nur noch das Bild, das wir ihnen zeigen wollen. Eine Art Fata Morgana, die für alle gedacht ist, die nicht mehr in unserem engen Vertrauenskreis stehen.

Begreifen die entfremdeten Lieben nicht, dass sie nun keinen Zugriff mehr aufs gesamte Bild haben, sondern halten es für die Realität, wundern sie sich vielleicht, wie viel besser das Leben der anderen plötzlich läuft, nun, da sie keine Rolle mehr darin spielen. Dieses nun vermeintlich leichte, perfekte Leben hat durch die Entfremdung eine Aura des „Unantastbaren“ bekommen. Und des „Unverletzbaren“.

Dabei stimmt das doch alles gar nicht – und ich halte nichts von Trugbildern. Welt, lass dir gesagt sein: Nichts an unserem Hauskauf war einfach. Vielmehr war dieses Finden das Ergebnis einer langen, sehnenden Suche nach einem Ort, an dem wir ankommen können. Nachdem die Besitzer unserer damaligen Mietwohnung sich etwa Mitte der 2010er-Jahre trennten und ein bitterer Rosenkrieg entbrannte, dessen Mitbestandteil auch unsere Wohnung war, fingen wir erstmals an, nach Eigentum zu suchen. Doch die astronomischen Preise machten uns als schlecht bezahlte, mehr oder weniger junge Angestellte sprachlos. Und auch die Geschwindigkeit, mit der die wenigen erschwinglichen Immobilien verkauft wurden. Wir sahen uns alles an, das halbwegs in unserer Preisklasse lag, und waren immer darauf gefasst, sofort zuzuschlagen, wenn wir mit einer Immobilie mal nur halbschlimme Bauchschmerzen hatten. Winzige Wohnungen. Dachgeschosswohnungen, in denen jedes Zimmer eine andere Art von heruntergekommenem Bodenbelag hatte. Wohnungen ohne Parkplatz in Altstadtlage. Raucherwohnungen, die komplett saniert werden mussten. Wohnungen in sozialen Brennpunkten, ein Plattenbau in Steinbach, elfter Stock – nach der Besichtigung rappte Björn mir im Auto den Song „Mein Block“ von Sido vor, während ich vor Frust weinte. „Hier platzen Träume“, lautet eine Zeile. Kein guter Ort, um sich eine Zukunft aufzubauen.

Wir besichtigten eine Wohnung, die einen tollen Fernblick auf Wiesbaden hatte, deren Treppenhaus aber dafür durchdringend nach Urin roch.

Wir sahen uralte, verfallene Häuser mit Wurm im Holzfundament, die niemand wollte, der bei klarem Verstand war. Ein Haus mit Asbestplatten und eins aus den 60er Jahren, das in Holzständerweise errichtet war und im Grunde bis auf das Gerüst entkernt werden musste, weil alles morsch war. „Rattenruine“ nannten wir es und waren froh, dass wir doch mit offenen Augen in diese Besichtigungen gingen, egal wie sehr wir uns ein eigenes Zuhause wünschten. Wir pilgerten zu Immobilien im Hintertaunus, 40 Kilometer bis zur nächsten Autobahnauffahrt. Doch nichts davon schien Sinn zu ergeben. Ich wollte das alles nicht. Ja, Eigentum schien der logische nächste Schritt zu sein. Aber nicht um jeden Preis, nicht, wenn wir dafür so große Abstriche machen mussten.

Als zogen wir, als die Situation mit dem getrennten Vermieterpaar eskalierte, in eine andere Mietwohnung. Doch wir kamen da irgendwie nicht an. Ich spürte, dass die innere Suche wieder begann, was nach knapp zwei Jahren in der neuen Wohnung irgendwie ein Schock war. Als ich mir die Immoscout-App erneut herunterlud, sagte ich mir selbst, dass ich nur mal schauen würde. Einer inneren Eingebung zufolge stellte ich in der App zum ersten Mal seit Jahren statt „Wohnung“ wieder „Haus“ ein. Und da war es, unser altes, kleines, alles andere als perfektes Hausi. Nach der ersten Besichtigung Anfang März 2023 war klar: Es hat Makel, sogar einige richtig heftige. Aber alle konnten wir entweder baulich beseitigen oder mit ihnen leben lernen. Dass die anschließende Preisverhandlung so gut lief und am Ende ein für uns bezahlbarer Preis stand, haben wir Robert Habeck zu verdanken, der genau in diesen Wochen versuchte, die Besitzer alter Häuser gesetzlich zur Komplettsanierung ihrer Immobilie zu zwingen. In diesem politischen Klima ein 100 Jahre altes Haus zu kaufen war Wahnsinn. Aber irgendwie war es auch Schicksal. Wir pokerten, kauften mit sehr viel Herzklopfen – und hatten Glück, dass das Gesetz nur in deutlich abgeschwächter Form kam. Hätte auch anders laufen können. Meine Praktikantin meint, dass sicher auch Gott die Hände im Spiel gehabt hat. Dem werde ich nicht widersprechen. :)

Ich möchte also sagen: Es gibt in der Regel lange Geschichten des Suchens und der Misserfolge zu erzählen, die denen der Erfolge vorangehen. Das wissen aber nur die Menschen, die einem nahestehen. Die, die einem nicht (mehr) nahestehen, wie der frühere Freund, schauen von außen auf mich, mein Leben, meine Erfolge, und staunen, wie glatt es zu laufen scheint, wie mühelos sich Dinge für mich – und für andere – zum Guten entwickeln.

Da ist er wieder, dieser Social-Media-Effekt, über den wir eigentlich schon gut genug aufgeklärt sind: Wir alle posten auf den sozialen Medien nur das Vorteilhafte, nur das Hübsche, nur das Handverlesene, von dem wir möchten, dass die Menschheit es über uns erfährt. Daher erzähle ich hier die ganze Geschichte – für mehr Realness.

Foto: Mohammad Asadi

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Über dezembra

Anne: Frau, über 40, Redakteurin, Buchautorin, kinderlos und verliebt ins Leben, bloggt über Zwischenmenschliches und Psychosoziales, über Frauenthemen und Arbeitsdinge, übers Reisen und das Leben ohne Schilddrüse.

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