#erinnerung: Der Held meiner Geschichte

Foto: Annie Spratt on Unsplash

Zum 70. Geburtstag vor zwölf Jahren wünschte sich der damalige Stadtverordnetenvorsteher Kelkheims eine Geschichte von mir. Eine Geschichte, in der er der Protagonist war. Schon jahrelang hatte Dr. Klaus Fischer jede unserer beruflichen Begegnungen in der Stadtpolitik genutzt, um sich nach meinem literarischen Schaffen zu erkundigen. Ich versprach, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, sagte ihm aber auch, dass ich keinen Einfluss darauf nehmen könne, ob es eine Heldengeschichte wird und wie sie ausgeht. Er war einverstanden mit den Bedingungen – doch was am Ende dabei herauskam, verwirrte ihn. :)

Am Wochenende ist Dr. Klaus Fischer nun mit 82 Jahren gestorben. Ich bin traurig und denke zurück an einen Mann, der sich mit unerschöpflicher Energie für seine Stadt und die lokale Kultur einsetzte. Ihm zu Ehren lest Ihr nun hier die zwölf Jahre alte Geschichte „In Dunkelheit“, die bisher nur er kannte.


Anne Zegelman

In Dunkelheit

Für Dr. Klaus Fischer, 1937-2020

Für gewöhnlich war es dunkel, wenn der Fischer abends nach Hause kam. Dann lenkte er seinen silbergrauen Wagen über die breite Chaussee und parkte ihn, sofern nicht alles belegt war, noch vor der Kurve. Sobald er ausstieg und den Schlüssel im Schloss drehte, schlich sich der nasse Herbst in seine Glieder. Noch immer fühlte er sich krank, hatte sogar die Sitzung vor ein paar Tagen aus gesundheitlichen Gründen versäumen müssen.

Der Fischer seufzte, ging mit langen Schritten den unbeleuchteten Weg entlang und zog die Schultern hoch. Elsbeth würde wie jeden Abend mit einer frischen Tasse Tee und einem Teller Essen auf ihn warten, den sie mit Plastikhaube im Backofen warm hielt. Der Stoff seiner Anzughose knisterte noch vom langen Tag im Büro und dem Linoleumboden, der Seidenfutter stets elektrisch auflud. Vielleicht waren es auch die fremden Visitenkarten in seiner Manteltasche, die gegeneinander rieben.

Sein Kopf, ordentlich gescheitelt und gekämmt, schmerzte vom vielen Reden. Worte, immer waren es Worte, die seinen Tag machten. Bücher, aus denen er schlaue Zitate suchte, und handbekritzelte Kärtchen zur Hilfe für eine lange Rede. Bürger, die mit Fragen zu ihm kamen oder erwarteten, dass ihre kleinen Probleme ihn interessierten, als wären es seine eigenen. Menschen, die glaubten, er schulde ihnen Verständnis. Obwohl manche von ihnen ihn wohl nicht einmal gewählt hatten. Doch damit konnte er leben. Und die Kunst? Das war etwas anderes. Bilder sprachen, ohne auch nur einen einzige Laut von sich zu geben. Nur die Farben störten ihn.

Manchmal, wenn Elsbeth und die Tochter bereits im Bett waren, saß der Fischer im Dunkel seines Wohnzimmers und bestarrte die Sammlung. Durch das weite Fenster fiel Mondlicht, das kaum der Rede wert war. Nur die Umrisse der Rahmen zeichneten sich schwach gegen die helle Wand ab, ihr Inhalt blieb im Schatten. Dann seufzte der Fischer und hatte zum ersten Mal an jedem Tag das Gefühl, nichts sagen zu müssen.

Die Tochter bekam von alldem nichts mit, doch Elsbeth sah ihn manchmal durch den Türspalt, wenn sie nach unten ging und kontrollierte, ob die Haustür abgeschlossen war. „Du könntest“, sagte sie dann, „doch die Bilder lassen. Und nur die Rahmen kaufen.“ Im Stillen nickte der Fischer dann über diesen Vorschlag und dachte, was für eine verständige Frau er doch hatte.

Nichtsdestotrotz, das gehörte sich nicht. Die Künstler dachten hoch von ihren Werken. Und im Prinzip hatte er nichts einzuwenden gegen Pinselstrich und Spachtelmasse. Gegen bunte Hütten an einem grün-schleimigen Strom in Indonesien, gegen die Teilung Berlins als Holzschnitt, gegen eine Bronzestatue aus Thailand, die auf dem Tischchen neben der guten Sofagarnitur doch nur Staub fing. Schon entlockten sie ihm ein mitleidiges Lächeln. Denn der Fischer, als Stadtverordnetenvorsteher und Kunstkenner, gab lieber Geld aus, das Elsbeth beim Wocheneinkauf sparte, als sich schämen zu müssen.

Der nächste Tag war stets der nächste. Der Fischer saß nickend in seinem Büro und überlegte gerade, ob er die Mittagspause wohl für einen Spaziergang nutzen könne. Fräulein Belinde, die zwar nicht seine eigene, aber doch die Etagensekretärin im Rathaus und deshalb für ihn zuständig war, trat ein, ohne anzuklopfen. Der Fischer hob kaum den Kopf.

„Hier ist das Protokoll der letzten Sitzung“, sagte Fräulein Belinde und ließ ein mehrseitig getackertes Papier auf die Unterlage seines Schreibtischs gleiten. Ob es ihr wohl aufgefallen war, dass er sie nicht mehr ansah?
Mit einer Handbewegung wischte der Fischer die Gedanken an seine Kopfliebschaft fort und dankte ihr. Als sie gegangen war, betrachtete er einen Moment lang das Protokoll, das wie von selbst neben seinen aufgestützten Ellebogen geglitten war. Worte. Dabei hatte die Kommunalpolitik ihn vor Jahren einmal wegen ihrer Möglichkeiten gereizt. Veränderungen, Verbesserungen. Doch nun floss seine Aufmerksamkeit wie Tinte auf einen kurzen Absatz im Manuskript vor ihm. „… beschließen die Stadtverordneten die Errichtung zwölf neuer Straßenlaternen, unter anderem in der Johann’schen Straße, Höhe Nummer 52,…“

Der Fischer erinnerte sich, erinnerte sich wohl. Straßenlampen waren gut und dienten jedermann. Auch er hatte dafür gestimmt, als der Antrag erstmalig vorgestellt wurde. Warum auch nicht. Doch ausgerechnet vor seinem Haus, in dem er sich mit ausladender Treppe und dicksten Mauern vor der kommunalen Welt dort draußen verschanzte wie in einer Burg? Streng genommen müsste ich mich freuen, dachte er. Doch, und das war neu, schmeckte er Zorn.

Ehe er sich versah, hatte der Fischer bereits den Telefonhörer abgenommen. „Fräulein Belinde, verbinden Sie mich mit der für die Straßenlaternen zuständigen Stelle.“

„Sprechen Sie“, meldete sich bald darauf eine dunkle männliche Stimme, die bereits vormittags unfreundlich klang.

„Hier ist der Fischer“, sagte der Fischer. „Ich möchte mit Ihnen über die geplanten Straßenlaternen sprechen. Ich habe das Protokoll der Stadtverordnetensitzung von letzter Woche vorliegen. Hier steht, dass zwölf neue Laternen errichtet werden sollen, eine davon in der Johann’schen Straße, Höhe 52.“

„Ganz recht“, sagte die Stimme desinteressiert.

„Diesen Auftrag muss ich hiermit zurück ziehen.“

„Mit welcher Befugnis?“, erkundigte sich die Stimme barsch.

„Es liegt ein Fehler vor.“

„Da kann kein Fehler vorliegen. Unsere Männer haben den Sachverhalt geprüft und festgestellt…“

„Die Lampe sollte stattdessen auf Höhe der Nummer 54 errichtet werden.“ Der Fischer wusste aus der Erinnerung, dass dort ein großer Baum das Licht abschirmen würde.

„Herr Stadtverordnetenvorsteher“, sagte die Stimme, „bei allem Respekt, aber Sie wohnen doch in Nummer 52. Das sollte Ihnen gelegen kommen. Wir haben die Messung von Ihrem Haus aus gestartet und alle weiteren Laternen im vorgeschriebenen Abstand geplant. Das war der Wunsch ihres Freundes, des Bürgermeisters, schließlich sind auch Sie nicht mehr der Jüngste und sollten nicht im Dunkeln den Schlüssel … Kurz gesagt, es liegt kein Fehler vor.“

Nun wurde der Fischer ungeduldig. „Hören Sie. Ich will dort keine Straßenlaterne haben.“

„Ich fürchte aber, wir werden sie dort errichten müssen. Sonst sind unsere Messungen für die ganze Stadt ungültig.“

„Ich säge sie ab.“

„Stahl.“

„Ich demontiere die Glühbirne.“

„Dann müssen Sie für die Wartungskosten aufkommen. Ich verstehe ja…“

„Sie verstehen überhaupt nichts“, brüllte der Fischer und knallte den Hörer auf die Gabel.

Später überlegte er, ob dieser Skandal wohl handfest genug war, um das Amt niederzulegen. Ohnehin gingen ihm die Unbedarftheit seiner Bürger und die endlosen Gespräche schon seit längerem aufs Gemüt. Er sprach davon, das Haus zu verkaufen. Doch Elsbeth weigerte sich, stattdessen mit ihm auf das stockdunkle Stoppelfeld zu ziehen, das der Wohnsiedlung anrainerte.

Die Ehe wurde geschieden. Der Fischer verlor seinen Besitz, denn Elsbeth kannte einen guten Scheidungsanwalt. Er durfte nur seine Gemälde behalten, die Tochter lehnte er ab. Auch wurde ihm das alte Zelt, das seit den 70er Jahren unter der Kellertreppe gelegen hatte, als Behausung zuerkannt, schließlich wollte Elsbeth sich großzügig zeigen. Der Fischer zog aufs Stoppelfeld. Bei dem Versuch, Nägel in die Wand seines Zeltes zu schlagen, um die Bilder daran aufzuhängen, verletzte er sich tödlich am Daumen. Er starb in Stille und vollkommener Dunkelheit.

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