
Gestern war ich den ganzen Tag mit meiner Mutter und Oma unterwegs. Wir sind regelmäßig bei unserer Familie in Franken, und gestern haben wir mal wieder Blumen aufs Familiengrab gelegt und mit den Lebenden Kaffee getrunken. Schön war’s. Auf dem Rückweg sprachen wir im Auto über dies und das, über Familien und Beziehungskonstellationen und die vielen unterschiedlichen Arten von Liebe in unseren Bekanntenkreisen. Und da fragte meine Mutter von der Rückbank: „Warum ist heute eigentlich alles so kompliziert?“
Mein erster Reflex war, zurückzufragen: „Ist es das denn?“ Mehr als früher? Liegt es nicht in der Natur von menschlichen Beziehungen, dass sie – neben allem Guten – immer auch kompliziert sind, voller Missverständnisse, Enttäuschungen und Kränkungen? Aber dann dachte ich: Sie hat recht. Es ist heute komplizierter als früher. Und zwar nicht nur im großen und ganzen, sondern an vielen verschiedenen Ecken und Enden des Lebens.
Beim Nachdenken über diese Frage sind mir fünf Punkte eingefallen, an denen sich das vielleicht festmachen lässt. Wie immer hier geschieht das sehr subjektiv und bezieht sich auf meine eigenen Beobachtungen. Meine Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und vielleicht seid Ihr ganz anderer Meinung, dann freue ich mich über einen Austausch.
Ein ehemals stabiles Grundgerüst
Früher – und ich bin weit, weit davon entfernt, dieses Früher als „gute alte Zeit“ zu sehen – war der Lebensweg des Menschen in der Gesellschaft irgendwie klar. Und zwar über Jahrhunderte hinweg. Sicher änderte sich vieles von Zeit zu Zeit, aber das Grundgerüst scheint mir stabil gewesen zu sein – und galt mal mindestens bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dieser Weg ging so: Kam man ins junge Erwachsenenalter, begab man sich, noch daheim bei den Eltern lebend, auf die Suche nach einem Lebensgefährten. Den traf man beim Tanzen, im Freundeskreis, im Dorf oder auf der Arbeit. Und hier kommt schon der erste Punkt, warum es früher in mancherlei Hinsicht einfacher war als heute.
1. Man hatte zu tun, was erwartet wurde.
Dass man sich binden wollte und dass dieser Lebensgefährte automatisch dem anderen Geschlecht angehörte, war irgendwie impliziert. Wenn man schwul war oder lesbisch – oder womöglich noch was anderes – oder wenn man im falschen Körper geboren war, hatte man die Klappe zu halten, denn sowas war nicht vorgesehen. In einem sehr offenen Umfeld wurde es vielleicht stillschweigend geduldet, aber nach außen hin offen und frei leben? Leider Fehlanzeige.
Deshalb gingen wohl die meisten Menschen den Weg, der ihnen vorgeschrieben wurde. Weil sie Angst hatten, weil sie eingeschüchtert wurden, weil man ihnen mit gesellschaftlicher Ausgrenzung drohte. Aber ich kenne leider auch Beispiele und Geschichten von Unglücklichen, die diese Lüge, in die man sie hineingedrängt hatte, nicht auf Dauer aufrecht erhalten konnten oder wollten. Und sich lieber das Leben nahmen. Ganz, ganz furchtbar.
Mit Blick auf die Eheschließung lässt sich aber wohl sagen, dass mit Hochzeiten früher nicht so lange gewartet wurde wie heute. Klar, man konnte ja auch nicht einfach zusammenziehen. Man musste die Beziehung legalisieren, bevor man wirklich loslegen konnte. Deshalb wurde, wenn es denn passte, nicht groß darüber diskutiert, ob man eigentlich an die Ehe glaube. Nein, man verlobte sich und heiratete. Und hier kommen wir zum zweiten Punkt, der früher wahrscheinlich wirklich einfacher war.
2. Man hinterfragte den Sinn der Ehe nicht offen.
Meist waren über eine Verlobung alle froh: Verlobte und Verlobter, dass sie ihr eigenes Leben beginnen konnten. Die Eltern der beiden, dass die Kinder nun flügge werden und auf eigenen Beinen stehen. Und auch die Gesellschaft, denn sie braucht junge Familien für ihren Fortbestand. Nach der Hochzeit gewöhnte man sich zunächst aneinander, anschließend gründete man eine Familie. Ja, auch das war irgendwie einfacher. Denn:
3. Der richtige Zeitpunkt für Kinder war dann, wenn sie kamen.
Und nicht dann, wenn gerade mal weniger anliegt auf der Arbeit. Wenn man gerade mal nicht in der Probezeit ist oder der fünfte befristete Vertrag in Folge endlich entfristet wird. Oder wenn man sich endlich dafür entscheiden konnte, überhaupt welche zu wollen. Sehr oft kamen sie einfach, ob gewollt oder ungewollt. War das besser als heute? Nö. Aber danach hat halt keiner gefragt.
Das mit dem Klappe-halten von oben betrifft ja übrigens auch dieses Thema. Traute man sich, zu sagen, dass man vielleicht gar keine Kinder wollte? Wahrscheinlich nicht. Wollte man öffentlich machen, dass man keine Kinder bekommen konnte? Wahrscheinlich auch nicht. Fragte man, ob es nicht besser wäre, Kinder zu adoptieren statt selbst welche in die Welt zu setzen? Scheint mir nicht so. Und diskutierte man gar bei Facebook die Möglichkeiten und Kosten und den Sinn von Social Freezing? Ähm, nein.
Waren die Kinder da, ging es darum, sie großzuziehen und sie auf den Weg in ein gutes Leben zu bringen. Dass damals oft zu hören war, die Kinder sollen es mal besser haben als die Eltern, zeigt eigentlich schon, dass die Eltern ganz oft nicht wirklich glücklich waren. Aber so war es halt, auch im Miteinander. Man riss sich zusammen, wenn es mal nicht so lief. Falls man sich gelegentlich fragte, ob das jetzt alles war, wenn man daran zweifelte, wie man den Anderen eigentlich ein ganzes Leben lang aushalten sollte, ja falls man vielleicht sogar eine tiefe Perspektivlosigkeit spürte, verschwieg man das nach außen mal besser. Das oberste Ziel war es, zusammenzubleiben. Oder besser gesagt: die einzige Möglichkeit. Und hier sind wir bei Punkt vier, warum das Leben früher weniger kompliziert war:
4. Scheidung war einfach keine Option.
Versteht mich bitte nicht falsch, bestimmt gab es damals wie heute sehr glückliche Ehen. Aber eben nicht nur. Unglückliche Ehen sind keine Erfindung der Neuzeit. Sehr wohl aber die gesellschaftlich akzeptierte Option, eine Ehe zu beenden. Heute, so scheint es mir, oder zumindest empfinde ich unsere Gesellschaft so, sitzt die Möglichkeit einer Scheidung bei jeder Hochzeit mit im Standesamt. Vielleicht nicht in der ersten Reihe. Aber sie ist da. Es gibt sie. Sie trägt einen blassrosafarbenen Hut und ein nettes Kleid und lächelt freundlich. Meist ist sie für die anderen Gäste unsichtbar – und sehr häufig setzt sie sich neben mich, die doch eigentlich nur in Ruhe die Trauung verfolgen möchte, und piekt mich mit spitzem Finger von der Seite, damit ich ihre Anwesenheit nicht vergesse. Den Brautpaaren zeigt sie sich nicht an diesem Tag, den meisten anderen Gästen auch nicht. Aber irgendwann, in einigen Monaten, in einigen Jahren oder Jahrzehnten, schickt sie der Ehefrau oder dem Ehemann einen Brief mit einem Foto, auf dem sie zu sehen ist, am Hochzeitstag und am Rande des Gruppenbildes vor dem Standesamt. Die Ehefrau oder der Ehemann, die den Brief öffnen, erinnern sich gar nicht, sie zu der Trauung damals eingeladen zu haben. Aber jetzt betrachten sie das Foto und denken sich: „Eigentlich doch ganz gut, dass sie damals dabei war.“
Mag sein, dass die bloße Möglichkeit einer Scheidung heute einer der größten Gründe dafür ist, dass man sich scheiden lässt. Aber da ist noch etwas anderes, ein fünfter Grund, warum es heute so kompliziert ist: Die Vergleichbarkeit nämlich.
5. Früher waren alle ab und zu unglücklich, heute offenbar nicht.
Ich bin ja selbst sehr aktiv auf Social Media. Aber gerade, wenn es darum geht, das eigene Glück zu schätzen, tut man sich keinen Gefallen damit, sich permanent zu vergleichen. Irgendjemand ist immer gerade frisch verliebt oder frisch getrennt – und allen geht es total gut dabei. Wenn ich meine Feeds öffne, weiß ich schon im Voraus, was ich da gleich finde: Fotos vom gemeinsamen Kuschelsonntagsfrühstück mit dem neuen Partner. Von instagramable Drinks von gestern Abend aus der hippsten Bar Frankfurts oder Berlins. Bilder von einer superindividuell geplanten Hochzeit. Das Händchen eines neugeborenen Babys. Reisefotos oder Hinweise auf tolle berufliche Erfolge, Buchveröffentlichungen, abgeschlossene Prüfungen, den hammermäßigen neuen Job. Und selbst, wenn es mal zum großen Knall im Leben gekommen ist, wird der auf Social Media noch positiv aufgearbeitet. Dann gibt es eben Bilder von der einsamen Meditation im Kloster nach dem (hart erarbeiteten) Burnout oder Eindrücke von der Rucksackweltreise, die man nun nach der Trennung endlich machen kann (Corona lassen wir da jetzt mal außen vor).
Nochmal, ich weiß, dass ich da keine Ausnahme bin, ich poste selbst nur das Beste aus meinem Leben. Aber glaubt mir, mir geht’s auch oft nicht gut, ich zweifle daran, ob ich denn alles richtig mache und warum es bei den Anderen so leicht aussieht. Die Antwort ist: Weil sie wollen, dass es leicht aussieht. Weil wir das alle wollen. Weil es uns irgendwie aufrecht hält und motiviert, sich mehr anzustrengen, damit es bei uns auch irgendwann so leicht wird. Wird es wahrscheinlich nicht, weil das alles nur ein riesiges Trugbild ist. Aber naja, Ihr seht vielleicht, worauf ich hinaus will.
Was also ist die Antwort?
Es scheint mir safe zu sagen: Ja, heute sind die Dinge komplizierter als früher. Doppelt safe ist es, zu sagen: Und das ist auch verdammt gut so. Denn dieses Komplizierte ist das Ergebnis eines langen Weges hin zum Besseren, den wir als Gesellschaft schon zurückgelegt haben. Endlich haben wir sowas wie eine Wahl, endlich dürfen wir all die Fragen stellen, die unser Leben heute komplizierter machen als damals. Ich bin denen, die diese Freiheiten durchgefochten haben, sehr dankbar. Aber zugleich bin ich auch überzeugt davon, dass noch kein Ende in Sicht ist und wir immer weiter dafür kämpfen müssen, dass das Leben kompliziert bleibt.

Dafür kämpfen, daß das Leben komplziert bleibt? Sollte der letzte Satz wirklich so lauten?
Ja – weil kompliziert heißt, alle Möglichkeiten zu haben.
Ich sehe das anders. Kompliziert d.h. da sind viele Schicksalsfäden miteinander verknotet. Sie aufzulösen, ist spannend und lehrreich für uns. Wir schieben die Entscheidung dann ziemlich lange vor uns her.
Einfach d.h. da haben wir alles in der Hand und können gestalten. Allerdings kann es auch zu einem Versagen kommen.
Eigentlich suchen wir aber doch nach dem Einfachen, oder?
Die Herbstblätter aber machen das Herz so froh, und auch an den aufgezogenen Blättern hat man seine Freude.
Ist das Leben nicht bunt und schön und voller Möglichkeiten? Nehmen wir es doch dankbar an, und machen etwas Sinnvolles daraus! Wozu kanalisieren und einengen und vergleichen mit dem, was früher war? Warum in den schmalen Bahnen früherer Konventionen laufen? Das Leben tritt jeden Tag ganz neu an uns heran und ruft uns zu: “ “ Mache etwas daraus!“
Und es ist ja schön zu sehen, daß sich neue Möglichkeiten zeigen, sich persönlich einzubringen.
Toller Beitrag! Vor allem beim 5. Punkt kann ich voll und ganz zustimmen. Obwohl immer mehr Influencer versuchen auch über Negatives offen zu reden, bewertet man durch Social Media oft seine eigene Situation schlechter als sie eigentlich ist. Und das nur, weil viele Beiträge den Anschein machen, dass das Leben der Person perfekt wäre (was sicher nicht der Fall ist)
Danke für deinen lieben Kommentar. Vielleicht macht es bei Social Media auch einfach das Mengenverhältnis aus. Es postet ja gar nicht jeder täglich etwas Tolles aus seinem Leben. Doch durch die Menge der „Freunde“ entsteht der Eindruck, allen ginge es immer gut. Da hilft es leider nicht, wenn zwischendrin auch mal vereinzelt echte Beiträge stehen. Erst recht nicht, wenn die dann trotzdem dekorativ bebildert sind, getreu dem Motto: „Wenn es mir schon mental nicht gut geht, bin ich trotzdem noch instagramable.“