
Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch hatte ich diese eine Freundin. Nennen wir sie Katrin, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist. Katrin und ich kannten uns schon seit dem Kindergarten und waren in der Grundschule lose befreundet. Später fanden wir uns über ein gemeinsames Hobby wieder und waren uns dann lange sehr nah. Ich mochte es, Zeit mir ihr zu verbringen, denn irgendwie war es immer lustig mit ihr und sie schien mich und meine Ideen zu bewundern. Das tat mir gut, denn bei meinen anderen Freundinnen war eher ich die, die bewunderte. Auch wenn Katrin nie meine allerbeste Freundin war, verbrachten wir doch prägende Jahre zwischen Jugend und jungem Erwachsenenalter miteinander und teilten viele Geheimnisse.
Ich mochte Katrin und ihr hysterisches Kichern, wenn wir wieder irgendeine Verrücktheit ausheckten. Nur eins hasste ich: Mit ihr zu telefonieren. Denn am Telefon funktionierte das mit uns nicht richtig. Irgendwie schien die Chemie eine andere zu sein, wenn wir nicht im selben Raum oder zusammen unterwegs waren. Dann schleppte sich das Gespräch nur so dahin – oft unterbrochen von unangenehmem Schweigen. Katrin erzählte kaum etwas von sich, und wenn doch, dann nur Dinge, zu denen ich keinen Bezug fand. Die „Moderation“ dieser Gespräche schien immer bei mir zu liegen, und somit auch die Verantwortung, sie am Leben zu halten. Katrin schien das Schweigen und sich-dahin-Schleppen nicht besonders zu stören, denn sie unternahm keine Anstalten, ein neues Thema zu finden, so dass wir weiterreden konnten. Aber mich störte es sehr, ich bekam in diesen stillen Telefonmomenten, in denen ich sie nur atmen hörte, regelrecht Herzrasen und durchpflügte meinen Kopf fieberhaft nach Dingen, die ich sagen könnte, um das drückende Schweigen zu durchbrechen.
Ich entwickelte eine schreckliche Abneigung dagegen, mit ihr zu telefonieren.
Doch Katrin empfand unsere Gespräche am Telefon offenbar nicht so, und nicht nur das, sie war, zumindest damals, auch ein Mensch, der klare Absprachen schätzte. Also bestimmte sie, dass wir an zwei festen Abenden pro Woche zur immer gleichen Uhrzeit für mindestens eine bis eher zwei Stunden telefonieren sollten. Ich weiß nicht, warum ich das damals überhaupt zuließ, aber ich tat es, und das ging über Jahre. Irgendwann trafen wir uns kaum noch persönlich, weil wir ja so oft telefonierten – und ich kein Bedürfnis hatte, darüber hinaus auch noch Zeit mit ihr zu verbringen. An den Tagen, an denen wir abends am Telefon verabredet waren, wachte ich schon morgens mit Bauchschmerzen auf. Die Aussicht auf ein sich sinnlos dahinschleppendes Gespräch mit einer Freundin, die ich doch eigentlich mochte, verdarb mir den ganzen Tag; dann fühlte ich mich traurig und bleiern, wie gefangen in einer Mühle, aus der es kein Entkommen gab. Wachte ich an einem Tag auf, an dem ich nicht mir ihr telefonieren musste, war allein das Grund genug, fröhlich aufzustehen.
Und doch beendete ich das Ganze nicht.
Weil ich Katrin nicht vor den Kopf stoßen wollte, aber vor allem, weil ich – damals wie auch heute – dazu neige, Regeln, die jemand gesetzt hat, als unumstößlich anzusehen. Außerdem telefonieren doch alle Mädchen gerne und stundenlang mit ihren Freundinnen, oder? Statt ihr zu sagen, wie sehr mich die Situation belastete und ihr die Chance zu geben, mich aus der Verpflichtung zu entlassen, „gaslightete“ ich mich selbst. Ich mochte Katrin doch, also musste es mir doch Spaß machen, mit ihr zu telefonieren, oder nicht? Irgendwas musste mit mir nicht stimmen, denn sie schien sich ja immer auf unsere Gespräche zu freuen. Katrin, so war mir klar, durfte nicht erfahren, wie anstrengend diese Abende für mich waren, denn das hätte sie wahrscheinlich verletzt. Ich überzeugte mich selbst davon, dass ich einfach zu empfindlich war und mich selbst ändern musste, um mit den Telefonaten besser klar zu kommen. Dass ich einfach lernen musste, auf Knopfdruck redebereit und fröhlich und interessiert zu sein, auch wenn es mir nicht gut ging, ich müde von einem langen Tag war und ich alles andere in dem Moment lieber getan hätte als mit ihr zu sprechen.
Unsere Freundschaft ging schließlich auseinander, als wir beide volljährig wurden.
Nicht, weil wir unterschiedliche Wege eingeschlagen und einander nichts mehr – oder noch weniger – zu sagen gehabt hätten. Sondern wegen eines Kerls. Es war eine unwürdige Geschichte und ich litt darunter, meine Freundin zu verlieren, aber im tiefsten Herzen war ich froh, dass wir uns voneinander entfernten. Und die Telefonate aufhörten.
Das Ganze ist 21 Jahre her. Und doch denke ich manchmal an sie und daran, wie ich mich bei diesen Telefonaten, vorher und nachher fühlte. Heute erkenne ich deutlich, dass ich irgendwann die Verantwortung hätte übernehmen und das sinnlose Telefonieren hätte beenden müssen. Damals wusste ich noch nicht, dass es verschiedene Arten von Freundschaften gibt. Die einen funktionieren nur, wenn man gemeinsam unterwegs ist, die anderen laufen gerade am Telefon hervorragend. Ich habe Freundschaften, die zu einem großen Teil über WhatsApp und Sprachnachrichten laufen. Und das ist völlig in Ordnung, das sind tolle, lebendige und innige Gespräche. Andere funktionieren toll, wenn man sich zum Videokaffee oder gemeinsamen Sushi-Essen vor der Kamera verabredet. Apropops: Ich bin so froh, dass es damals noch kein Zoom oder Skype gab, denn sonst hätte ich am Telefon mit Katrin nichtmal nebenher auf einem Zettel herumkritzeln können, um mich von den negativen Gefühlen abzulenken.
Ich bedauere es sehr, dass ich mich in meiner Jugend und als junge Frau derart bedrängen habe lassen.
Weil es mir leid tut für die junge Anne, aber auch, weil ich merke, dass ich auch heute noch unter solchen gelernten Mustern leide. Dieses Sich-selbst-gaslighten (hier gibt es einen Artikel dazu auf brigitte.de) richtet großen Schaden an. Denn wenn man überzeugt davon ist, dem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr trauen zu können, weiß man kaum noch, was wahr ist – und ist zutiefst erschüttert in der Selbstwahrnehmung.
Ich würde schon sagen, dass mir dieses über Jahre andauernde Einreden, es läge an mir, bleibende Schäden zugefügt hat. Das zeigt sich noch heute an meiner Reaktion auf Verabredungen, die ich nicht selbst initiiere. Wenn mir Verabredungen „aufgedrängt“ werden, selbst von Menschen, die ich sehr mag, ist meine erste Reaktion immer noch Herzrasen – denn es könnte ja anstrengend, bleiern und schleppend werden, es könnte mir in dem Moment zu viel sein, es könnte mir den Tag verderben und mich schließlich wieder in diese depressive Verstimmung ziehen, die ich damals so lange durchleiden musste. Ich muss in dem Moment, in dem wir uns verabreden, fühlen, dass ich das auch wirklich möchte. Ich muss die Wahl haben und mich dafür entscheiden. Alles, was mit Zwang verbunden ist, macht mir sofort Panik.
Zum Glück habe ich aber auch aus dem Erlebten gelernt. Die Freundinnen und Freunde meiner Jetzt-Zeit wissen, dass ich in dieser Hinsicht nicht ganz so entspannt bin wie andere Menschen. Dass ich mich nicht zu festen Uhrzeiten zum Telefonieren verabreden will. Vielleicht kennen sie den wirklichen Grund dafür nicht, aber sie akzeptieren, dass meine Tagesplanung eher spontan funktioniert – und feste Termine da nicht gut reinpassen. Aber sie lassen sich darauf ein und erleben, dass es funktioniert. Denn wenn ich in dem Moment wirklich Lust darauf habe, mit der- oder demjenigen zu sprechen, kann ein Telefonat ganz wunderbar sein.





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