
Als ich am Mittwochmorgen die Augen aufschlug, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Zimmer drehte sich, das Bett schwankte. Ich versuchte, mich aufzurichten, und musste mich an der Matratze festhalten, um nicht aus dem Bett zu fallen. Alles verschwamm vor meinen Augen und ich tastete halb blind nach dem Telefon, um den Wecker auszuschalten. Ich versuchte, die Panik niederzukämpfen. Verdammt verdammt verdammt. Ich wusste genau, was das bedeutete. Der Drehschwindel war zurück.
Vorsichtig, den Kopf nach rechts geneigt, schob ich mich aus dem Bett und fiel sofort hin. Zum Glück auf den Teppich, zum Glück stieß ich nicht an irgendein Möbelstück. Mist, ich glaubte, brechen zu müssen, so schlecht war mir. Ich rappelte mich auf und machte mich auf den unendlich langen Weg zum Bad, wobei ich mich den schwankenden Flur an der Wand entlangtastete. Im Bad riss ich das Fenster auf und atmete die kalte Morgenluft. Die Badezimmeruhr sagte mir, dass ich mich fertig machen musste, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Doch mein Körper befahl, mich zurück ins Bett zu schleppen und einfach nur wieder einzuschlafen.
Was wie ein Alptraum klingt, ist für Menschen, die unter Drehschwindel leiden, Realität.
Der anfallartige Drehschwindel wird auch Attackenschwindel genannt. Es handelt sich um eine Form des Schwindels, die akut von einem Moment auf den anderen einsetzt und oft Minuten bis Stunden anhält. Während des Schwindelanfalls kommt es zu einem starken Drehgefühl, das oft auch mit Übelkeit einhergeht. Ebenso besteht eine ausgeprägte Fallneigung.
Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte, www.hno-aerzte-im-netz.de
Schwindel, das klingt erstmal harmlos. Fast jedem Menschen war doch schon mal schwindelig, oder? Aber nicht so, Drehschwindel ist alles, alles andere als harmlos. Und auch alles andere als unbekannt. Viele Menschen in meiner Familie und in meinem Freundeskreis haben diese fürchterlichten Schwindelattacken schon ein- oder sogar mehrmals erlebt und sind voller Mitgefühl, wenn sie von anderen hören, dass die ebenfalls betroffen sind.
Eine körperliche Ursache dafür kann Morbus Menière sein, die Menière-Krankheit, bei der sich ein Überdruck im Innenohr bildet, in dem das Gleichgewichtsorgan sitzt. „Dies führt zum Einreißen der feinen Membranen, mit denen die verschiedenen Räume des Innenohrs voneinander abgetrennt sind. Durch die Risse können plötzliche Verlagerungen der Flüssigkeiten im Innenohr auftreten, die dann als Falschmeldungen zum Gehirn weitergeleitet werden“, heißt es auf der Webseite des HNO-Berufsverbandes. Und das führt dazu, dass, wie der Medienarzt Dr. Wimmer es beschreibt, die Welt „vom einen auf den anderen Moment völlig aus den Fugen gerät“ (in diesem Video erklärt er die Krankheit).

Eine weiterführende Vermutung ist, dass eine Infektion durch Viren, möglicherweise Herpes-Viren, der Auslöser sein könnte (vgl. Artikel auf www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org). Natürlich können die Ursachen aber vielfältig sein, Schlaganfall, Entzündung oder eine Blutung im Gehirn – alles ist möglich.
Deshalb ist es wichtig, dass man, wenn der Schwindel erstmals auftritt, zum Arzt geht und abklären lässt, dass nicht noch mehr dahinter steckt. Der HNO-Arzt kann mit speziellen Tests schnell sehen, ob es sich um vom Gleichgewichtsorgan ausgelösten sogenannten Lagerungsschwindel handelt. Mein HNO hat eine spezielle Liege, auf der er eine Schwindelattacke gezielt herbeiführen kann (allein bei der Erinnerung wird mir schon wieder schlecht). Dabei beobachtet er vor allem die Augen, die bei einer Attacke 30 bis 60 Sekunden lang hektisch zucken (man nennt das „Nystagmus“, vgl. hier eine Beschreibung des Uniklinikums Jena und ein Video des „Instituts für vestibuläre Rehabilitation“ auf YouTube).
Nach diesem Test weiß man, was man hat: Lagerungsschwindel. Man weiß nicht so richtig, warum, aber es hilft ja schon mal, das Ganze einzugrenzen und andere schlimme Ursachen auszuschließen. Das Problem ist nur, dass der Arzt einem darüber hinaus nicht wirklich helfen kann. Meist zucken die HNO-Ärzte mit den Schultern und empfehlen eine sogenannte Lagerungsübung (Befreiungsmanöver des hinteren Bogenganges nach Semont, hier auf YouTube). Die hilft auch, allerdings geht man während der Übung erstmal durch die Hölle. Und sie hilft nur langsam. Aber nach einigen Tagen tritt Besserung ein.
Drehschwindel ist kein rein psychosomatisches Leiden.
Aber Stress kann ein Auslöser dafür sein, dass der Körper verrückt spielt. Für mich ist der Schwindel der lauteste Warnschuss, den ich kenne. Normalerweise bin ich meisterlich darin, über meine Krankheiten hinwegzuarbeiten und meine körperlichen Grenzen zu ignorieren. Aber der Schwindel lässt nicht mit sich verhandeln. Er ist die Grenze, die ich nicht überschreiten kann. Wenn er kommt, geht nichts mehr, er streckt mich nieder und zwingt mich auf die Couch oder ins Bett. Ein kaltes Runterfahren des Systems, ein Shutdown, dem schlichtweg egal ist, was an dem Tag alles zu tun ist und ob das warten kann oder nicht. Es wird warten.
Ich habe etwa alle ein bis zwei Jahre mit so heftigem Schwindel zu kämpfen, der dann meist zwei Wochen anhält, bis er – dank der Lagerungsübung – abklingt. Es gibt körperliche Ursachen dafür, und dennoch ist der Schwindel bei mir eng mit Stress verknüpft. Das weiß ich, weil er zuverlässig in extrem fordernden Phasen auftritt. Erstmals so richtig schlimm, als ich bei einer Tageszeitung im Newsroom arbeitete, täglich vom Chefredakteur angebrüllt wurde und am Ende der Produktionsphase so nass geschwitzt war wie nach einem Marathon. Seitdem kann ich mich in sehr stressigen Zeiten – leider – fest darauf verlassen, dass der Schwindel irgendwann kommt.
Aktuell gibt es bei uns große und eigentlich sehr schöne Entscheidungen zu treffen (nächste Woche kann ich Euch hier endlich mehr darüber erzählen), durch die ich bis hierhin sehr gelassen gegangen bin. Aber nun ist er da, der Schwindel, er streckt mich nieder. Und er macht mir verdammte Angst. Was ganz normal ist.
Schwindelanfälle, insbesondere regelmäßig wiederkehrende, sind eine enorme psychische Belastung für die Betroffenen. Schließlich stellen die Beschwerden eine große Bedrohung dar, die nicht selten mit Todesangst und nahezu immer mit dem Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins verbunden ist.
Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte, www.hno-aerzte-im-netz.de
In diesen Situationen hilflos zu sein, völlig wehrlos, nicht zu funktionieren – ein wahrgewordener Alptraum. Und auch das Wissen, dass dies nicht die letzte Schwindelphase in meinem Leben sein wird und ich nie weiß, wann es wieder losgeht, ist schwer zu akzeptieren und kann nicht selten auch psychische Probleme auslösen. Deshalb gibt es sogar einen Verein der Betroffenen von Morbus Menière, der aufklären und Erkrankte vernetzen möchte.
Drehschwindel ist furchtbar. Aber man ist damit nicht alleine. Wenn man erst einmal anfängt, offen darüber zu sprechen, stellt sich meist schnell heraus, dass viele Menschen im Umfeld damit Erfahrung haben. Und Mitgefühl kann schon ein bisschen helfen.
++ Disclaimer: Ich bin keine Ärztin und berichte in diesem Artikel rein subjektiv über meine Beschwerden. Bitte geht bei Schwindelattacken zum Hals-Nasen-Ohrenarzt und lasst Euch untersuchen. Eine Liste mit allen HNOs auch in Eurer Region ist hier zu finden.
Was ist ein „Medienarzt“ ?
Ein durch die Medien bekannter Arzt. ;)
Ah :)
“ Aus der Not eine Tugend machen“, das ist hier ein Beispiel dafür. Danke.
Liebe Anne, das hast du super erklärt 🤩 mich erwischte der Drehschwindel das erste Mal vor vielen Jahren wie bei dir nach dem Aufwachen. Ich fiel raus und krabbelte auf dem Boden entlang weil sich alles drehte. Nach dem HNO Arzt, der auch bei mir diesen unangenehmen Schwindeltest gemacht hat, wusste ich das es von den Gleichgewichtsorganen kommt. Übungen und Tabletten halfen mir mich nach knapp drei Wochen wieder fit zu werden. Stress war auch bei mir der Auslöser. Die Anfälle kündigen sich bei mir meist mit einer kurzen Schwindelattacke an dann weiß ich das zurück rudern angesagt ist. Migräne kommt auch gerne bei Stress bei mir und im schlimmsten Fall beides zusammen. Inneres Gleichgewicht schafft Gleichgewicht…. Jedenfalls meistens. Fühl dich gedrückt und danke für den schönen Artikel.
Liebe Hanne, danke für deinen Kommentar und deine Geschichte. Gelingt es dir durch das Zurückschalten beim ersten Warnschuss mittlerweile, eine längere Attacke zu vermeiden? Ich gebe zu, ich kenne diese allerersten kurzen Warnzeichen auch, habe sie aber bisher nicht zum Anlass genommen, schon da kürzer zu treten, sondern die folgende Schwindelattacke eher als unausweichlich angesehen. Viele Grüße und einen schönen Sonntag!
Hallo Anne 😊
ich bekomme es tatsächlich hin grössere Attacken zu vermeiden indem ich bei den ersten Anzeichen kürzer trete aber du darfst nicht vergessen das ich nicht arbeiten muss und deshalb dem Stress auch besser ausweichen kann. Auf der Arbeit war das sehr schwer. Ich hatte damals Tabletten die ich bei den ersten Anzeichen genommen habe. Eine Bekannte von mir hat mit Akkupunktür gute Erfahrungen gemacht. Ich komme mit Entspannungsübungen (Yoga und autogenes Training) gut zurecht. Aber da habe ich lange herum experimentiert ….
Ich hoffe du findest für dich eine schnelle Möglichkeit die Attacken zu mildern.
Liebe Grüße Hanne