#psyche: In die Leere gehen

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Der 1. Mai ist im Main- und Hochtaunus und in Teilen Frankfurts traditionell ein Tag der inneren Einkehr. Warum? Weil der Straßenverkehr aufgrund des Radrennens Eschborn-Frankfurt für viele Stunden fast vollständig zum Erliegen kommt. Auf den Schnellstraßen und innerhalb der Ortschaften sausen dann die Radfahrer entlang, Profis und Jedermann-Radler, und phasenweise ist die Luft erfüllt vom Wummern eines oder mehrerer Hubschrauber, mit denen zum Beispiel der Hessische Rundfunk vom Rennen berichtet, zusätzlich zu den Übertragungswagen, die auf der Strecke mitfahren. Wer den Fernseher anschaltet, kann im HR vielleicht das eigene Haus, mindestens aber die Hauptstraßen des eigenen Taunusstädtchens sehen. Und ist dann freudig-aufgeregt: „Schau mal, meine Schule!“.

Dass an diesem Tag alles zum Erliegen kommt, hat mich früher sehr gestresst. Das wollte ich nicht akzeptieren, immerhin war das ja auch für mich ein Feiertag, den ich gerne nutzen und mit Familie und Freunden verbringen wollte. Deshalb habe ich mir die Sperrzeiten genau angeschaut und mir einen Plan zurecht gelegt, wann ich noch rauskomme und wie lange ich weg sein muss, um wieder reinfahren zu können. Oder ich bin doch mal mit der Bahn gefahren, auch wenn die an Feiertagen höchstens einmal die Stunde geht. Im Ort zu bleiben, die Vorstellung fand ich nicht cool, ja sogar regelrecht klaustrophobisch. Manchmal wollte ich auch tatsächlich zu irgendwelchen Radrennveranstaltungen – in meinem Heimatort Schwalbach am Taunus zum Beispiel gibt es oft tolle Streckenpartys, bei denen die Aprés-Ski-Musik wummert, Würstchen auf dem Grill brutzeln und hektoliterweise das Bier und die Shots fließen. Früher bin ich einfach hingelaufen, aber seitdem ich woanders wohne, musste ich mir natürlich überlegen, wie das gehen konnte. Mit dem Radl irgendwohin zu fahren war und ist bis heute an diesem Tag keine Option für mich eher unsportliche Zeitgenossin – denn erstens geht’s im Taunus heftig bergauf und bergab, und zweitens fühle ich mich angesichts der supersportlichen Radfahrer, egal ob Profis oder gestählte Laien, eh einfach blöd.

Doch seit ein paar Jahren fahre ich am 1. Mai nicht mehr woandershin. Seit ein paar Jahren begreife ich diesen einen Tag im Jahr, an dem hier alles zum Erliegen kommt, als Chance, den Stillstand zuzulassen. Das ist bisweilen unangenehm, denn ich mag zwar Stille und Ruhe sehr, allerdings zu meinen Bedingungen, in den Zeiten, die mir dafür angemessen erscheinen. Deshalb muss ich üben, diese gut zwölfstündige Fremdbestimmung zu akzeptieren – und nicht nur das, sondern sie vielleicht auch wirklich zu genießen.

Letztens habe ich mit einigen Kolleginnen darüber gesprochen, dass es manche von uns wütend macht, an der Kasse oder beim Arzt warten zu müssen, wenn wir doch so viel anderes zu tun hätten. Und dass es manchen Menschen gelingt, diese Minuten des Leerlaufs nicht nur zu akzeptieren, sondern sie sogar zur Entspannung zu nutzen. Das wünsche ich mir auch. Denn diese Ungeduld, die ich von mir selbst auch sehr gut kenne, ist kein schöner Zug, vor allem, wenn an der Kasse ein alter oder einfach so langsamer Mensch den Betrieb aufhält. Ich weiß auch, dass nicht der langsame Mensch das Problem ist, sondern mein plötzlich wieder übertrieben eng getakteter Alltag und mein Durchhetzen durchs Leben.

Der langsame Mensch kann höchstwahrscheinlich nicht schneller, für manche ist die Interaktion mit der Kassiererin oder dem Kassierer der einzige soziale Kontakt am ganzen Tag, die sie dann auch genießen möchten – und außerdem müssen sich nicht alle anderen an meinem Lebenstakt orientieren. Das alles ist mir klar. Damit alle Bedürfnisse gleichermaßen erfüllt werden können, gibt es mittlerweile in so manchem Supermarkt neben den Schnellscannerkassen auch „langsame Kassen“, bei denen man sich ganz bewusst Zeit für ein Schwätzchen lassen kann (in München heißen sie zum Beispiel „Ratschkassen“). Grandios, oder?

Während ich die Idee sehr lösungsorientiert finde, steckt für mich aber fast noch mehr Lösungspotenzial im Grundproblem:

Der endlosen innerlichen Hetze, die ich im Alltag empfinde.

Natürlich kann ich vieles nicht ändern, aber so manchen Stress könnte ich schon selbst runterregulieren. Zum Beispiel müsste ich nicht jede kurze Wartephase mit einer E-Mail oder einem kurzen Scrollen durch Social Media füllen. Denn das macht ja alles nur noch schlimmer. Plötzlich bin ich nicht mehr nur gestresst, weil ich warten muss und vermutlich zu spät zu meinem nächsten Termin komme, sondern auch, weil sich per Mail drei neue Probleme aufgetan haben, die eine Lösung erfordern. Und das ist ungefähr das Gegenteil von Achtsamkeit – ein Konzept, mit dem ich mich schon lange beschäftige und das ich früher sehr gut in meinen Alltag integrieren konnte.

Dass das überhaupt möglich ist, liegt natürlich am Smartphone. Die Seuche unserer Zeit. Der emotionale Schnuller für jede Lebenslage – fühle ich mich einsam, setze ich mir sofort einen Kontakt-Schuss per WhatsApp, fühle ich mich hässlich, poste ich sofort ein Selfie auf Social Media und nehme die Likes als Seelenpflaster entgegen, habe ich Leerlauf, nutze ich den nicht zum Durchatmen, sondern stopfe ihn mit drei neuen Problemen. Dass es nicht gut ist, die ganze Zeit erreichbar zu sein, ist keine revolutionäre Erkenntnis, ich weiß – aber doch eine, die alle paar Monate wieder zu mir zurückkommt. Als ich 2015 für die Zeitung sechs wunderbare Wochen aufs Handy verzichtet und darüber geschrieben habe, war ich – nach einer heftigen Entzugsphase – wunderbar entspannt.

Sich daran zu erinnern, wie großartig das war, sagt mir, dass ich aktuell wieder über-erreichbar und über-gebucht bin. Das Handy auszuschalten ist ein Lösungsweg, ein anderer, es aus eigener Kraft zu schaffen, nicht mehr dauernd daran rumzudaddeln. Ich fürchte, das ist etwas, das ich einfach lernen muss: nicht immer so effektiv jede Minute auszunutzen, sondern der Seele mal Raum zu geben, sich auszuruhen. Zum Beispiel in erzwungenen Pausen wie an der Kasse oder am 1. Mai.

Ich schreibe das mit einem unguten Gefühl, denn während der Pandemie habe ich so viel darüber nachgedacht, wie zu voll und zu überdreht mein Leben und generell die Welt sind.

Währenddessen habe ich meine Erkenntnisse über Monate hinweg sorgsam gepflegt und bewahrt, fest entschlossen, sie zu konservieren für eine Zeit danach. Aber es ist mir nicht gelungen – gerade fühlt mein Leben sich stressiger und voller und verrückter an als jemals zuvor. :( Das mag daran liegen, dass alles wieder in vollem Tempo und noch schneller läuft, um die verlorene Zeit aufzuholen. Und ein bisschen auch an einigen privaten Veränderungen, die wahrscheinlich kommen und um die ich und wir uns derzeit kümmern müssen. Aber gerade fühlt es sich an, als müsste ich eine Art Notbremsung vollziehen, was mein Stresslevel betrifft. Und wieder besser für mich und meine seelische Gesundheit sorgen.

Falls Ihr davon erzählen mögt, ob Ihr Euch bis hierhin etwas aus der Pandemie bewahrt habt, gerne. Oder geht es Euch vielleicht gerade auch so wie mir?

1 Kommentar

  1. „Reue nützt nichts; – anders handeln!“
    Das ist ein – auf innerem Wege – aufgenommener Rat.
    Nicht von mir; aber ich gebe ihn gern weiter.
    Nun gut, ich lese, daß der Anfang bereits gemacht wurde. ☺️♥️

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