Nachtschreiben

Lyrikschreiber wirken auf ihre Umwelt manchmal etwas unheimlich. Gerade Menschen, die sich nicht besonders gut mit Literatur auskennen, verstehen oft nicht so recht, was diese zerrissenen Sätze und scheinbar wahllos verteilten Umbrüche bedeuten sollen. Deshalb möchte ich Euch heute vom Gedichteschreiben erzählen.

Die Frage, ob aus einem Gedanken eine Geschichte oder ein Gedicht werden soll, steht am Anfang, ist aber für den Schreiber gar nicht so leicht zu beantworten. Meistens ist es eine Bauchentscheidung – und eine Frage der momentanen Schaffensphase. Die ersten zehn Jahre meines Schreibens habe ich ausschließlich Kurzgeschichten geschrieben, Lyrik hat mich schlicht nicht interessiert. Ich mag die Form der Kurzgeschichte, deren Grenzen wie die einer Tanzfläche klar umrissen sind – und innerhalb dieser Grenzen ist die ganze Welt möglich.

Doch dann kamen die ersten gebrochenen Herzen. Die ersten Grausamkeiten. Und die ersten Sprachlosigkeiten. Und ich entdeckte die stumme Wut einer Leerzeile und die namenlose Wucht eines amputierten Satzes.

Mittlerweile schreibe ich Lyrik vor allem nachts im Bett, ganz schnörkellos auf einen karierten Block. Marcel Reich-Ranicki, der ja Legenden zufolge selbst beim Lesen immer Anzug und Krawatte trug, würde sich im Grab umdrehen – wenn ich ihn denn interessiert hätte. Lyrik entsteht bei mir auf denkbar chaotischste Weise. Den Anfang macht ein Gedanke, der reift und wächst. Ich spüre, dass es etwas zu sagen gibt. Aber ich denke nicht darüber nach, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Ich schreibe und streiche durch, füge an und kritzele ganz schlimm herum. Meine Gedichte reimen sich nie und handeln fast immer von dem, was Menschen füreinander fühlen. Denn die Liebe und ihr Maskenspiel sind das größte Thema in meinen Gedichten und Geschichten – und nein, ich schäme mich überhaupt nicht dafür. ;)

Abgesehen davon habe ich in den vergangenen Jahren auch vorwiegend Gedichte veröffentlicht – und im vergangenen Jahr wurde mein Gedicht Octo-2 ja sogar mit dem Hildesheimer Lyrikpreis ausgezeichnet. Ich freue mich darüber, auch wenn ich in meinem lyrischen Schaffen noch relativ am Anfang stehe. Für mich ist ein Gedicht jedenfalls momentan die beste, schönste und ausdrucksstärkste Form, zu schreiben.

Natürlich interessiert mich auch, wie Ihr ans Schreiben heran geht. Seid Ihr genauso kreativ chaotisch wie ich – oder macht Ihr vorher einen genauen Plan?

5 Kommentare

  1. Ich war 16, als ich mit dem Schreiben anfing und bei mir standen tatsächlich die Gedichte am Anfang, das Erzählen habe ich erst später für mich entdeckt. Dabei war es mit 16 schon so, wie auch heute, am beginn eines Gedichtes steht eine Emotion, das reine Fühlen, das nach Ausdruck verlangt. Daraus entsteht häufig eine Rohfassung des Textes. Dann jedoch wird inzwischen der Literat in mir wach und ich fange an, an den Feinheiten zu justieren. Manchmal führt das sogar dazu, dass ganze Verse sich noch ändern, das ist aber eher selten der Fall. Meistens geht es bei dem Justieren um einzelne Worte, um das Glätten der Metrik oder das Einhalten des Reimschemas. Dabei achte ich jedoch immer darauf, dass die mir dann ja bewusste Emotion, die am Anfang stand, dabei nicht verloren geht – ob mir das allerdings immer gelingt, kann ich selbst natürlich nicht beurteilen. Anders ist es bei den Geschichten, die ich fast immer eine ganze Weile in meinem Kopf spazieren trage, bis das erste Wort geschrieben wird. Jedoch für die Gedichte wie auch die Geschichten gilt: schreiben, das heißt am Leben sein.

    1. Schön und optimal ist es, wenn der Grundgedanke nicht durch die Eitelkeit überpinselt wird, besonders kapriolige Worte zu finden. Das passiert selten, wenn man für sich selbst schreibt, und häufig, wenn man es für andere tut. Und noch schöner ist es, wenn der Grundgedanke sich weiterentwickelt und diese Entwicklung im Gedicht nachvollziehbar ist.

  2. Jetzt muss ich doch mal den mrr verteidigen, der wusste schon, welches chaos der geburt eines verses vorausgehen kann, wahrscheinlich immer geht. Und er wusste natürlich, dass der größte, gelungenste, unheimlichste und überwältigendste vers der ist, der ein ungeheures bändigt und in form bringt, manchmal ganz schlicht wie eine zeile von heine oder eichendorff oder brecht, manchmal raffiniert und streng und durchkomponiert wie eine strophe von george, den er so wenig mochte wie hölderlin, weil ihm das raunen nicht geheuer war, man ahnt, warum…

    1. Ja, ich glaube auch, er wusste das. Ich hatte immer den Eindruck, gute Literatur wird für ihn aus Qual und Schmerz geboren. Doch bei mir ist es häufig ja gar keine Qual, sondern eine gewisse Verspieltheit im Umgang mit Lyrik. DAS hätte ihn sicher irritiert. ;)

      1. Dabei hat der hölderlin ja so schön alles gesagt übers dichten, wenn es gelingt:

        An die Parzen

        Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
        Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
        Daß williger mein Herz, vom süßen
        Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

        Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
        Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
        Doch ist mir einst das Heilge, das am
        Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

        Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
        Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
        Mich nicht hinab geleitet; Einmal
        Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

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