Lebensschichten: Ist es wichtig, was darunter liegt?

Foto: Jonas Jacobsson

Schon seit langem faszinieren mich Häuser, deren unterstes Geschoss keines ist. Weil sie auf Stelzen stehen oder auf Säulen, weil sie über eine Durchfahrt gebaut wurden (sieht man in Frankfurt oft) oder weil eine Brücke hindurch führt (wie in Schwalbach). Die aber jedenfalls nicht bis zum Boden ganz normal Haus sind. Früher hat mich dieser Anblick fast in eine Krise gestürzt. Dann habe ich die Fenster direkt darüber angestarrt und mich gefragt, wie das wohl sein mag, über dieser Leere zu wohnen. Ob man daran wohl häufig denkt, dass unter einem kein stabiles Erdgeschoss ist, sondern nur Luft. Ob man sich irgendwie schwebend fühlt, vielleicht sogar ein bisschen unsicher. Für mich war es ein Rätsel, wie man sich so eine Wohnung aussuchen kann – und vielleicht auch ein bisschen eine Phobie, die nicht jeder nachempfinden kann.

Wie Ihr vielleicht gelesen habt, sind wir im Februar umgezogen. Und zwar von einem ganz normalen Haus, das im Erdgeschoss beginnt und am Dach endet, in ein Haus, dessen Erdgeschoss nicht aus Erdgeschoss besteht, sondern aus überdachtem Parkdeck und Einfahrt zur darunterliegenden Tiefgarage. Weil man sich das anhand meiner gestammelten Beschreibung sicher schlecht vorstellen kann, habe ich es für Euch fotografiert:

Das Parkdeck, über dem unser Wohnhaus steht.

Unsere Wohnung liegt nicht direkt über dem Parkdeck, dort ist eine Steuerkanzlei, aber direkt über der Kanzlei ist unsere Wohnung. Lustigerweise ist mir erst vor einigen Wochen wirklich bewusst geworden, dass wir nun auch zu denen gehören, die über dem Boden „schweben“. Bis dahin habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, aber jetzt muss ich oft daran denken, wenn ich am Esstisch sitze und schreibe, wenn ich auf der Couch liege oder die Spülmaschine ausräume, dass unter mir beziehungsweise unter der Kanzlei nur Luft ist. Und dann fühle ich dieses Schweben, diese Luft regelrecht in den Füßen, die dann kribbeln.

Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht oder ob es eine persönliche Eigenart ist, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen. Ob es eine abgefahrene kleine Phobie ist, die mich liebenswert oder verrückt dastehen lässt. Aber ich möchte nicht in der Luft schweben, ich bin eigentlich ganz gern auf dem Boden und brauche den Kontakt zur Erde. Ist vielleicht so ein Wurzel-Ding.

Aber gut, da ich das jetzt nicht ändern kann und ich abgesehen davon die neue Wohnung ja sehr mag, stellt sich eine andere Frage: Ist es denn überhaupt wichtig, was darunter liegt? Oder geht es nicht viel eher nur um die Wohnung selbst? Und warum ist mir das eigentlich so bewusst? Björn macht sich darüber nämlich gar keine Gedanken.

Ist es wichtig, was darunter liegt? Eine philosophische Frage, die sich auf vieles ausweitet, wenn man erstmal anfängt, sie zu denken.

Auf alles, im Grunde. Zum Beispiel: Ist es wichtig, wie ich an diesen Punkt in meinem Leben gekommen bin? Oder ist es einzig und allein ausschlaggebend, dass ich jetzt hier bin? Ist es relevant, auf welche Weise ich mein Wissen erworben habe – oder nur, dass ich jetzt weiß, was zu tun ist? Muss ich hinterfragen, worauf meine Glaubenssätze beruhen – oder langt es, dass ich sie habe?

Für mich besteht das Leben aus Schichten. Die wachsen, sich gegenseitig überwuchern und die immer da sind, auch wenn man sie nicht mehr sieht. Meine Vergangenheit ist da, meine Erfahrungen, alle guten und schlimmen Erlebnisse, die mich geprägt haben. Ich bin nie nur ich, nie nur die oberste Schicht, die gerade gewachsen ist. Nie losgelöst von dem Fundament, auf dem ich stehe.

Das ist mein Blick auf die Welt.

Vermutlich wird es für mich deshalb nie egal sein (können), woher ich komme, was ich erlebt habe und warum ich nun die bin, die ich bin. Oder dass unter meiner Wohnung und der Steuerkanzlei nur Luft ist.

Foto: Anton Koch

Wenn ich also die große Frage dieses Textes beantworten muss, dann sage ich: Ja, es ist wichtig, was darunter liegt. Denn nur, wenn ich die verschiedenen Faktoren miteinberechne, kann ich so etwas wie einen Eindruck vom Gesamtbild bekommen. Oder, ein Beispiel aus dem Leben einer langjährigen Diäterin: Wenn ich mir das Fett am Bauch absaugen lasse, ist das eine andere Geschichte, als wenn ich es mir weghungere und wegtrainiere. Vielleicht steht am Ende ein ähnliches Ergebnis, aber der Weg ist so unterschiedlich, dass ich zwangsläufig aus beiden Wegen etwas Unterschiedliches lerne. Es mich unterschiedlich prägt. Entweder ziehe ich nämlich den Schluss daraus, dass es gut ist, sich manchmal einfach medizinische Hilfe zu suchen, wenn es anders nicht klappt, oder aber ich ziehe den Schluss daraus, dass man sich nur genügend anstrengen muss, um zum Ziel zu kommen. Gleiches Ergebnis, völlig unterschiedliche Lerneffekte. Die jedoch beide für sich Auswirkungen auf künftige Entscheidungen haben werden.

Und deshalb ist es wichtig, was darunter liegt, was hinter mir liegt und was ich gelernt habe. Die persönliche Wirklichkeit ist immer, immer die Summe dessen, was ist. Egal, ob man sich das bewusst macht oder nicht, egal ob man das möchte oder nicht. Ich bin nicht ich ohne meine Erfahrungen, ohne meine Freude und meine Trauer, meine Demütigungen und Schmerzen. Ohne meine Entscheidungen und meine Schlussfolgerungen.

Zugleich aber kann und darf ich nicht zu viel Energie darauf verwenden, an das zu denken, was darunter liegt.

Denn es hat mich zwar geprägt, ist aber dennoch „nur“ die Basis dessen, was als nächstes geschieht. Wichtig ist, das Darunterliegende zur Kenntnis nehmen, es im Hinterkopf abzulegen und als Faktor zur Beurteilung von Situationen heranzuziehen (zum Beispiel bei der Wohnung: Sind Risse in der Wand ein Zeichen dafür, dass das Haus einstürzen wird, oder nur ein Schönheitsmakel? *g*). Ich ziehe aus diesen Überlegungen den Schluss, dass ich bewusst üben muss, mich mehr auf das zu konzentrieren, was direkt um mich ist, auf die oberste meiner vielen Schichten. Sonst kann einen die Vergangenheit, das Unsichtbare, das Darunterliegende vom jetzt Wichtigen ablenken. Und wir leben ja nun mal alle im Jetzt. Hat also auch wieder was mit Achtsamkeit zu tun.

Wie ist das denn bei Euch? Könnt Ihr nachvollziehen, was ich meine? Wie gut könnt Ihr ausblenden, was drumherum und untendrunter ist? Und wie wichtig sind Euch Eure eigenen Erfahrungen und Erlebnisse im Verhältnis zum Jetzt?

2 Kommentare

  1. Bis jetzt habe ich den 1. Teil gelesen, etwas unterhalb des Photos. Und bis hierher habe ich gut folgen können und verstehe, wie sich das wohl anfühlen kann für jemander, der/ die da empfindsam reagiert..Ich bin auch lieber mit „Mutter Erde“ verbunden, würde nicht so gern „in der Luft schweben“.
    Nun bin ich gespannt, wie es weitergeht.

  2. Da wir hochentwickelte Primaten sind, sollte sich etwas von der Gewohnheit, auf Bäumen zu leben, noch in unseren Genen befinden. Den unter mir wohnenden Nachbarn kann ich schlecht ausblenden, denn ich höre seinen Fernseher, rieche wenn er Zwiebel anbrät, … Und bis zu den Antipoden strapaziere ich meine Fantasie nicht. Das lässt sich aber feststellen: https://www.antipodesmap.com/

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