
Hochsensible wirken manchmal geheimnisvoll und oft so, was wären sie zu empfindlich für diese Welt. Dabei kommen sie gut klar, wenn sie ihre eigenen Grenzen beachten. Und sie sind nicht allein: Etwa jeder fünfte Mensch ist hochsensibel, also ein guter Teil der Gesellschaft.
Hochsensible Personen (HSP, engl. Highly Sensitive Person) nehmen aufgrund ihrer neurologischen Disposition Reize intensiver wahr und verarbeiten diese möglicherweise auch anders. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Reize exogen oder endogenen Ursprungs sind. Diese Bereitschaft auf Reize zu reagieren, ist bei ihnen stärker ausgeprägt als bei der Durchschnittsbevölkerung. Ca. 15-20% der Bevölkerung sind davon betroffen. Dies hat den Nachteil, dass diese Menschen leichter reizüberflutet sind und häufiger Phasen benötigen, in denen sie sich zurückziehen können, um diese Eindrücke zu verarbeiten.
Dr. Sandra Konrad, Professur für Persönlichkeitspsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, dass ich zu diesen 15 bis 20 Prozent gehöre. Und zwar nicht aus eigener Schwäche heraus, sondern weil ich – wie ca. jeder fünfte Mensch – mit diesen ganz besonders empfänglichen Sensoren geboren wurde (hier auch lesen: „Hochsensible und Empathen: So sehen wir die Welt“).
Das ist ein Geschenk, denn es ermöglicht, tiefer zu fühlen und zu sehen. Aber es ist auch ein Kampf und oft genug ein Leiden. Vor allem dann, wenn man mit Normal-Sensiblen zusammen ist und sich kaum traut, auf etwas aufmerksam zu machen, das nur Hochsensible schmerzt.

Im Sommer hatte ich so einen Moment. Ich war mit ein paar Freundinnen in einem superschönen Biergarten, der Platz war hübsch, die Natur lauschig, es kühlte langsam ab. Eigentlich war alles perfekt. Doch direkt neben unserem Tisch hing an einem Baum ein Lautsprecher, der unseren Platz und alles drumherum mit wahnsinnig lauter Musik beschallte. Und sie schien immer lauter zu werden.
Ich wusste sofort: Das kann ich nicht aushalten, das ist nicht verhandelbar, auch wenn alles drumherum stimmt. Aber natürlich versuchte ich es trotzdem. Ich wollte ja, dass es mir nichts ausmacht. Doch ein paar Minuten später war ich dermaßen am Rand meiner Nerven, dass ich vorsichtig fragte, ob die anderen sich auch gestört fühlten von der Musik: „Nein, ist doch okay.“ Mist. Und doch musste ich darauf beharren, dass wir uns einen anderen Platz suchen. Die Mädels sahen mich genervt an, während sie schweigend ihre Sachen nahmen und mir folgten – zu einer Erkundungstour durch den Biergarten und einer Schallstudie, welches Eck wohl am leisesten ist.
Immer die Anne mit ihren Extrawünschen.
Immer die Anne, die so empfindlich ist. – An diesem Abend wurde mir bewusst, dass ich bei meinen Freundinnen und Freunden längst diesen Stempel habe. Das kann ich gut verstehen, sowas ist auch nervig. Und natürlich kann, wer nicht so empfindlich auf Geräusche reagiert, nicht nachempfinden, dass sich laute Musik anfühlt wie Terror und körperliche Schmerzen verursachen kann. Bei mir zeigt sich das auch immer an der Haut, die praktisch sofort zu kribbeln beginnt und sich rötet.
Das ist, wie man sich vorstellen kann, durch Corona und monatelangen Lockdown noch stärker geworden, weil ich außer Übung bin, solche Situationen auszuhalten. Ein sehr intensives Erlebnis war für mich ein Tag in Amsterdam im Hochsommer des vergangenen Jahres. In den Gassen der Altstadt musste man auch draußen den Mundschutz tragen, es war ungefähr 39 Grad warm – und der Tag war für mich, obwohl ich mich sehr auf die Stadt gefreut hatte – ein fast durchgehendes einziges Leiden. Meine Freundin, mit der ich unterwegs war, war sehr lieb und verständnisvoll – sie war sofort einverstanden, nachmittags schon wieder zurück in unser Stranddorf zu fahren und den Abend lieber am Meer als in der Stadt zu verbringen. Vielleicht ging es ihr ähnlich. Vielleicht auch nicht und sie hat es mir zuliebe getan.

Es mag egostisch klingen. Aber – je älter ich werde, desto kompromissloser muss ich dazu stehen. Nicht nur, weil diese Merkmale bei mir immer ausgeprägter werden mit den Jahren (das ist eindeutig so), sondern weil ich mich selbst immer besser kennenlerne und immer besser abschätzen kann, dass es Zeitverschwendung ist, jetzt einfach mal so zu tun, als ob es ginge, und den Tag „durchzuleiden“.
Meine ganze Kindheit und Jugend und auch mein junges Erwachsenenleben hindurch hat dieses „Durchleiden“ ganz gut funktioniert; da habe ich meine Grenzen, meine Schmerzen mitunter, einfach ignoriert und weitergelebt. Weil es erwartet wird.
Auf hochsensible Kinder wird in unserer Gesellschaft keine Rücksicht genommen.
Das ist mir gerade diese Woche wieder in den Sinn gekommen, weil ich mit meiner Abteilung auf Klausurtagung in einer Jugendherberge war, in der ich schon einmal als Jugendliche ein paar Tage verbracht habe. Das hat viele Erinnerungen an alle möglichen Klassenfahrten in den 90er Jahren zurückgebracht. Ich habe mich, jetzt auf meinem spartanischen Bett in meinem spartanischen Zimmer sitzend, ganz genau daran erinnert, wie schrecklich das damals oft war, wie über alle Bedürfnisse hinweg von morgens bis nachts Programm gemacht wurde, eins für alle, und dazu immer zehn, 15 Kilometer lange Wanderungen. Kinder, die psychisch nicht mehr konnten, weil ihnen das enge Zusammensein mit anderen rund um die Uhr zu viel war, Kinder, die Schmerzen hatten oder Krämpfe in den Beinen, die Heimweh hatten oder sonstwas, wurden bestenfalls ausgelacht (immerhin wahrgenommen), schlimmstenfalls einfach gar nicht beachtet. Das macht mich so wütend. Vor allem, wenn man davon ausgeht, dass das kein Einzelschicksal ist und rechnerisch von 30 Kindern auf einer Klassenfahrt sechs völlig überfordert sind. Dieses ständige Davonausgehen, dass alle Kinder, alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben, macht so viel kaputt in der Gesellschaft. Und auch in den Kindern selbst, denn man verlernt, sich und das, was einem Körper und Geist an Rückmeldungen geben, ernstzunehmen.
Ein Gefühl bleibt: Ich bin so froh, erwachsen zu sein.
Denn heute weiß ich, mich gibt es nur so, wie ich bin. Wer mich so nicht nehmen kann, mit all meinen Spleens, meinen kuriosen Leiden, aber auch meiner tiefen Freundschaft und meinem aufrichtigen Mitfiebern, mit dem kann ich leider nicht befreundet sein. Und siehe da, die meisten können einen sehr gut nehmen, wie man eben ist.
Aber dorthin zu kommen war ein jahrzehntelanger Prozess. Den man, mit der richtigen Förderung im Kindesalter, hätte verhindern können. Mir tun alle Kinder leid, die jetzt gerade in diesen Situationen gefangen sind, die gleichgemacht werden sollen und sich so sehr wünschen, wie die anderen zu sein, genauso abgehärtet und ebenso gleichgültig, aber die doch still leiden. Hochsensible Kinder müssen dringend öfter gesagt bekommen, dass sie richtig und gut sind, wie sie sind. Und dass sie ihre Gefühle ernst nehmen dürfen. Vielleicht stehen sie dann, sobald sie aus der Gleichmaschungsmaschine Schule herauskommen, früher dazu und quälen sich nicht jahrelang mit den Spätfolgen.
Am besten: Sich zurückziehen von solch stressigen Plätzen, lieber alleinbleiben und diese besonderen feinen Begabungen im Stillen – für die „Menschheit“, die so etwas sucht – weiter und höherentwickeln, – so würde ich es machen und mache es wohl schon fast meine über 80-jährige Lebenszeit so.😊
Das ist auch das, was einem die Erfahrung irgendwann sagt: Da man sich selbst nicht ändern kann und möchte, muss man eben die Umgebung ändern. Genau richtig.
Ja, obwohl der Verzicht auf Gemeinschaft oft schwerfällt. Aber so ist frau doch „bei sich selbst geblieben“ und insgesamt ruhiger und zufriedener.😊