
Kürzlich durfte ich einen sehr interessanten Mann zum Gespräch treffen. Er hat ein Buch über sein Leben als schwuler katholischer Seelsorger geschrieben – und weil ich ihn und das Thema so dermaßen spannend finde, wollte ich einfach alles darüber wissen. Deshalb saßen wir fast zwei Stunden an seinem Küchentisch und haben geredet. Dabei ist für mich ein Stück Weisheit abgefallen, das mit meinem Artikel nichts zu tun hatte. Mir war beim Verschlingen seines Buches (so muss man es wirklich sagen) nämlich aufgefallen, wie unglaublich viele Freunde er hat – und wie aufgeschlossen und freudig er immer weiter Menschen in sein Leben lässt.
Ich fragte ihn also: „Wie schaffen Sie es, Ihren unglaublich vielen Freundschaften gerecht zu werden?“ Und lustigerweise – er kennt mich nicht persönlich und war auch nie auf meinem Blog – wusste er sofort, was ich meine. „Das muss ich gar nicht“, sagte er fröhlich.
Seine ganz andere Haltung zum Thema Freundschaft wurde allein durch diese wenigen Worte und sein Lächeln offenbar. Aber ich bohrte weiter: „Und wie schaffen Sie es, zu allen Kontakt zu halten, mit denen Sie sich im Lauf Ihres Lebens angefreundet haben?“
„Ich habe zu den meisten keinen Kontakt mehr. Mein Mann und ich haben nur wenige Freunde.“
Bähm. Da war sie, diese Wahrheit, dieser grundlegende Haltungsunterschied, der ihn befreit und mich zu einer Gefangenen meiner Freundschaften macht: Man darf Menschen loslassen. Ja, man muss sie sogar loslassen!

Da ich in ihm einen Lehrmeister zum Thema Freundschaft erkannte, beschloss ich, ihm mein eigenes Problem anzuvertrauen. Dass ich nämlich regelrecht im Schraubstock meiner vielen Kontakte stecke, mir die Frequenz meiner Freundetreffen schon lange nicht mehr gut tut (hier lesen: „Mein Name ist Anne und ich bin Bezieholikerin“) und dass ich regelrecht Angst davor habe, nach der Pandemie in mein altes Muster zurückzufallen. Und vor allem, dass ich von den vielen alten Freundschaften so blockiert bin, dass ich schon seit Jahren eigentlich kaum noch neue Leute in mein Leben lassen kann.
Warum? Weil ich mich verpflichtet fühle, für alle Freunde mein ganzes Leben lang dazusein, loyal an ihrer Seite zu stehen, immer wieder von mir aus Kontakt zu suchen, eben die Freundin zu sein, die man sich wünscht. Das kostet sehr viel Kraft, die ich für neue Kontakte einfach nicht mehr habe. Dabei wären neue Menschen durchaus eine lohnende Investition, denn sie bringen neue Gedanken, frischen Wind, andere Perspektiven. Aber kraft- und zeitbedingt muss ich die vielen spannenden neuen Leute ziehen lassen, ohne anzudocken – weil ich ja noch so viele „Altlasten“ in meinem Leben habe. Die mich übrigens wahrscheinlich ebenfalls als Altlast empfinden und vielleicht sogar froh wären, ich würde meine zwanghaften Bemühungen einstellen.
„Das ist aber schade, dass Sie das so machen. Da verpasst man doch viel“, sagte mein Gesprächspartner.
Dieses Treffen ist schon fast zwei Monate her – und von dem Freundschaftsthema abgesehen freue ich mich sehr, dass mein Artikel dazu beitragen konnte, dass sein Buch von den Medien äußerst interessiert aufgegriffen wurde. Die FAZ berichtete, RheinMainTV lud ihn zum Gespräch ins Studio ein und zahlreiche andere Zeitungen druckten meinen Artikel über ihn.
Das, was er mir über Freundschaft gesagt hat, klingt noch immer nach.
Und vor vielleicht einer Woche hatte ich ein Gespräch mit Björn zum gleichen Thema. Nämlich, dass ich so gerne neue Leute treffen und neue Gedanken hören würde. In diesem Gespräch ist es mir zum ersten Mal gelungen, ihm zu erklären, wie sich mein Problem eigentlich anfühlt. Nämlich so:
Für jede Freundschaft, die ich pflege, halte ich ein Kontingent an Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit zurück. Sozusagen als Gegenwert, falls meine Freundin oder mein Freund mich mal braucht. Also nicht braucht, um mal einen Abend das Herz auszuschütten. Sondern sich so richtig heftig, volle Lotte, auf mich stützen muss. Ich habe das schon ein, zweimal erlebt, dass ich jemanden wirklich durch heftige Krisen begleiten musste, die Monate gingen und die mir alles abverlangt haben. Nicht in jeder Freundschaft wird so etwas, zum GLÜCK, nötig. Aber wenn es so sein sollte, muss diese Kraft irgendwo herkommen, denn dann kann ich es mir nicht leisten, nicht zu funktionieren. Ich weiß, dass ich das falsch sehe, dass ich niemanden tragen muss. Aber in den wenigen Fällen – und auch in meiner Kindheit, die ich mit einem leider psychisch kranken Elternteil verbracht habe – hat es sich genau so angefühlt.

Also spare ich in der Zeit, damit ich in der Not funktioniere. Ähnlich den Rücklagen, die ein Arbeitgeber bilden muss, wenn ein Angestellter Überstunden macht. Oder auch wie die Notenbank, die für jeden Euro, der im Umlauf ist, den entsprechenden Wert in Gold zurückhalten muss, damit das Geld einen Wert hat (wahrscheinlich funktioniert das in Wirklichkeit ganz anders, aber so stelle ich es mir mit meinem kindlichen Finanzverständnis vor – und ja, in meiner Vorstellung lagern Goldbarren, Kronen und Juwelenschmuck der Regierung in einer verwunschenen Zauberhöhle. So tickt meine Fantasie eben. *g* Lacht mich nur aus.)
Mein Problem, was Freunschaften betrifft, ist: Meine Goldhöhle ist übervoll mit all dem Gegenwert, den ich zurückhalte. Und zwar, falls einmal alle meine Freunde mich gleichzeitig heftig brauchen. Würden. In Theorie. Denn natürlich wird das nie passieren, das sagte mir auch Björn in unserem Gespräch. Mit anderen Worten: Wenn man überhaupt eine Reserve für jede Freundschaft zurückhalten muss (was ich mittlerweile doch bezweifle), langt es, wenn sie kleiner ist als das, was dann tatsächlich abgerufen wird.
Oder: Man legt einfach gar nichts zurück.
Und hilft dann, wenn wieder so eine Krise kommt, mit den Ressourcen, die da sind. Und wenn sie aufgebraucht sind …? Ist das so. Dann werde ich künftig nicht mehr über meine Kraft gehen, egal ob angespart oder spontan zugeschossen, um jemanden zu tragen.
Krisen muss jede und jeder selbst bewältigen. Und die meisten Menschen schaffen das auch. Natürlich nehmen sie meine Lebensenergie, die ich ihnen aufdränge, weil ich mir manchmal nicht anders zu helfen weiß, um die- oder denjenigen zu trösten. Aber das muss aufhören. Ich möchte, muss und werde künftig nur noch daneben stehen, die Hand halten und unterstützen, aber den Menschen nicht mehr aus meiner eigenen Kraftquelle miternähren.
Ich löse also meinen Goldvorrat auf und entrümpele die Höhle.
Ich lasse meine Freunde frei, weil es normal ist, dass Menschen gehen. Die, die bleiben möchten, bleiben aus eigener Gravitation heraus. Aber ich binde niemanden mehr an mich, der eigentlich schon längst weggewandert wäre. Und ich darf neue Menschen in mein Leben lassen – aber nur, wenn es mir passend erscheint. Ich muss nicht. Mal sehen, wohin mich das führt. Aber zum ersten Mal seit langem freue ich mich darauf, das rauszufinden. :)